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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Das alte Serail in Konstantinopel.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen.

Auf der schmalen Halbinsel zwischen dem Bosporus und dem Goldenen Horn baut sich das alte Stambul in zauberhafter Schönheit auf. Hunderte großer Paläste, mächtiger Kuppeln und schlanker, zarter Minarets erheben sich über das weite Häusermeer der Türkenstadt und spiegeln sich in den blauen Fluten der Meeresstraßen wieder, die es umspülen.

In märchenhafter Pracht liegt dieses Konstantinopel mit seinen halb europäischen Vorstädten Pera und Galata vor den Augen des Beschauers, und der Weltfahrer wird in seiner Erinnerung vergeblich suchen, in welchem Weltteil, welchem Lande er ähnliche Pracht geschaut. Schon in vorchristlichen Zeiten galt dieses Stückchen Paradies zwischen Asien und Europa, zwischen dem Schwarzen und Mittelländischen Meere als der herrlichste Besitz; jahrhundertelang war es die glänzende Hauptstadt des großen byzantinischen Reiches, und etwa zur selben Zeit, als Kolumbus dem alten Europa eine neue Welt entdeckte, ging dieses herrlichste Kleinod Europas, Byzanz, an die asiatischen Eroberer verloren. Während viereinhalb Jahrhunderten ist es die Residenz der turkestanischen Fürsten geblieben, welche als Herrscher des osmanischen Reiches viele Generationen hindurch die halbe mohammedanische sowie die halbe christliche Welt bekriegten, welche die Reiche Europas von ihrem Schlosse aus in Bann hielten. Sie besiegten Kaiser und Könige, Schahs und Sultane und Republiken, und der Glanz ihres Hofes, die Macht ihrer Soldateska überstrahlte Jahrhunderte hindurch alles, was die Alte Welt bis zu ihrem Kommen gekannt hat.

Unwillkürlich sucht der Beschauer Konstantinopels zunächst die Residenz der langen Reihe von Großsultanen, welche seit Mohammed-el-Ghazy, dem Bezwinger von Byzanz, hier geherrscht haben. Er sucht zwischen den himmelragenden Moscheen und gewaltigen Ringmauern und Türmen und Palästen nach jenem Herrschersitze, auf welchem jahrhundertelang die Geschicke des östlichen Europas und des westlichen Asiens gelenkt wurden, er sucht nach einer Art Kreml oder Tower oder Alhambra, nach jenem alten Serail, dem Stolz und der Perle von Stambul. Aber er sucht vergeblich! Während die Alhambra im äußersten Südwesten Europas ein Schmuckkästlein maurischer Baukunst, der Kreml im Nordosten ein gewaltiges Schloß voll asiatischer Pracht und der Tower im Nordwesten eine mittelalterliche Zwingburg mit hohen Türmen und zinnengekrönten Mauern ist, zeigt sich der Sitz des glänzenden türkischen Fürstenhofes im äußersten Südosten Europas wie ein Lustgarten, in welchem Frauenlaunen einige zierliche Lusthäuser, Bäder, Kioske, Terrassen etc. erstehen ließen!

In solcher Weise erscheint wenigstens das alte Serail dem Beschauer vom Bosporus aus (vergl. Abbildung S. 245). Von dem ungeheuren Kuppelbau der Sophienmoschee senkt sich der Bergrücken, auf welchem Stambul liegt, allmählich in eine flache Spitze auslaufend, gegen die blaue Wasserfläche, und diese an drei Seiten von ihr umflutete Landzunge wird von großen Gärten eingenommen, zwischen deren dunklen Cypressen- und Myrtenbäumen und ungeheuren Platanen eine Reihe von verschiedenen Gebäuden hervorleuchtet, mit kleinen Kuppeln und Domen, und überhöht von einem Turm, der aussieht wie der Turm einer deutschen Dorfkirche.

Das Serail war einst die Wiege der Osmanen in Europa, es hat ihre Glanzepoche gesehen ebenso wie ihren Niedergang. Fünfundzwanzig Sultanen hat es als Residenz gedient, es war ein Palais, ein großes Feldlager, eine Festung und ein Heiligtum, der Mittelpunkt eines Weltreiches und einer Weltreligion.

Wohl aber hat kein anderer Ort der Erde so viel von den schlimmsten Leidenschaften der Menschen gesehen, von Neid und Eifersucht, Ehrgeiz und Habsucht, in keinem sind so zahlreiche Verbrechen und Morde begangen worden, Morde zwischen Brüdern, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Herrn und Diener! Die ganze Geschichte des osmanischen Reiches ist von hier aus geleitet worden, die Laune einer Odaliske hat ganze Provinzen in Armut gestürzt, auf den Wunsch eines schönen Mädchens wurden blutige Kriege gefochten, und das alte Serail ist heute der Friedhof nicht nur einer ganzen Reihe fremder Völkerschaften, sondern auch der einstigen Größe des osmanischen Reiches und seiner Fürstenherrlichkeit!

Selbst als Residenz der Sultane dient es nicht mehr, denn die furchtbaren Tragödien, welche der Thronbesteigung Mahmuds II im Jahre 1808 vorausgegangen waren, veranlaßten diesen Fürsten, den Palast von Tscheragan, am Bosporus gelegen, zu seinem Wohnsitz zu machen. Sein Nachfolger Abdul-Medschid erbaute den feenhaften Palast von Dolmabagdsche, und der jetzt regierende Abdul-Hamid verlegte seine Residenz noch weiter weg von Stambul, nach dem Yildiz-Kiosk, der auf den Höhen östlich von Pera inmitten ausgedehnter Palastanlagen versteckt ist. Heute wohnen im alten Serail nur die Witwen der Sultane.

Aber die wichtigsten und geschichtlich interessantesten Gebäude des alten Serails sind doch stehen geblieben. Sie werden heute von Palastwachen, schwarzen und weißen Eunuchen, noch gerade so streng bewacht wie zur Zeit der früheren Sultane, und nur ganz bevorzugte Reisende erhalten mittels kaiserlichen Firmans die ungemein schwer zu erwirkende Bewilligung, das Serail zu besichtigen.

Die meisten werden bei der Durchwanderung des alten Sultanssitzes enttäuscht, ernüchtert, denn auch um die drei großen Höfe desselben erheben sich nicht stolze Paläste in anspruchsvoller, reicher Architektur oder Gebäude von besonderer Zierlichkeit und Eleganz, sondern nur weitläufige, niedrige, höchstens einstöckige Bauten in großer Zahl, als wären sie die zu Stein gewordenen Zelte eines großen Feldlagers, wie es die Vorfahren der osmanischen Dynastie in früheren Zeiten besaßen, als sie noch die Häuptlinge eines turkestanischen Nomadenstammes waren. Und doch wurde ich hier mehr gefesselt, mehr erschüttert als in den reichsten Palästen des fernen Orients, in Indien, Siam, China, Japan – nicht der traurigen Gegenwart, sondern der aller Beschreibung spottenden gewaltigen, erdrückenden Vergangenheit wegen.

Gleich das erste und äußerste Thor, das Bab-Humayun, der berühmten Fontäne vom Sultan Achmet und der Sophienmoschee gegenüber gelegen, ruft diese Vergangenheit zurück, denn zu beiden Seiten dieses im halb arabischen, halb persischen Stil aus schwarzem und weißem Marmor erbauten Thores zeigen sich noch die Nischen, in welchen am Morgen die blutigen Kopfe jener Staatsmänner oder Hofwürdenträger aufgehängt wurden, die in der vorhergehenden Nacht gefallen waren. Auf den Vorplatz aber wurden die Leichname der Gehenkten geworfen, und zwischen diesen hindurch begaben sich die glänzenden, farbenprächtigen, goldstrotzenden Reihen von Ministern, Generalen, Garden täglich nach dem Serail an den Hof des Sultans! Die Pforte, an der heute einfache türkische Soldaten stehen, wurde damals von

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0242.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)