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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wendet sie sich an den langen Gymnasiasten Anto, der seine Ferien bei den Eltern verlebt, „du setzest dich hier an Mutters Bette und verläßt sie keinen Augenblick – ich komm’ gleich wieder.“

„Ja, Tante Christel!“

Und Christel läuft die Treppe wieder hinunter, zieht das erste beste Paar Stiefel ihres Schwagers an und geht durch das Wasser auf den Hof; an der Schwelle des Hofthores steht sie schon einen halben Meter tief darin. Die Dunkelheit ist gradezu unheimlich, sie kann nicht sehen, wohin sie tritt; sie beschließt eben, durch den Garten zu gehen, der noch trocken sein muß, um irgendwie an eine Stelle zu gelangen, wo sie helfen kann; da hört sie durch all das Tosen und Rufen das Schnaufen von Pferden, ein schwacher Lichtschimmer fällt über das gurgelnde Wasser, und eine Stimme, die ihr durch Mark und Bein geht, schreit so laut sie kann: „Halloh! Ein Kind, ein halb ertrunkenes – nehme mir jemand das Kind ab!“

Im nächsten Augenblick hat sich Christel auf die Hundehütte und von dort auf die Mauer geschwungen. „Hier!“ schreit sie, „neben der Pfortenthür links!“ Und nun ist ein schnaubendes aufgeregtes Pferd an ihrer Seite, und von diesem herunter wird ihr etwas Nasses, Schweres in die Arme gelegt und der Schein der kleinen Laterne, die auf des Reiters Brust befestigt ist, trifft ihr Auge. Sie blickt auf und schaut in Antons Gesicht. Einen Augenblick ist es ihr, als entgleite die Last ihren Armen, dann hat sie sich gefaßt, ist mit dem Kinde von der Mauer geglitten und watet durch das immer höher steigende Wasser dem Hause zu mit dem geretteten fremden Wesen, das er ihr gab. Das Herz pocht ihr wie rasend – in dieser halben Minute hat sie eine ganze Geschichte erfahren, hat sie ein vorzeitig gealtertes, von Kummer gezeichnetes Antlitz erblickt! Sie kann den Ausdruck seines Gesichtes nicht mehr vergessen. Bei der Pflege des Kindes verfährt sie ganz mechanisch, sie vergißt die Not da draußen, die mörderische Flut, sie vergißt die kranke Schwester, sie denkt nur an ihn. Mit dem in trockene Tücher gehüllten Würmchen sitzt sie in der Sofaecke, wie gelähmt. Als der Morgen dämmert, steht der Schwager vor ihr, naß, bleich, sich schüttelnd vor Frost.

„Die Gefahr ist vorüber,“ sagt er tonlos, „das Wasser fällt. Der Müller Thalweg ist ertrunken, er wollte seinen alten Vater retten, und Tagelöhner Finkes kleiner Albert ist auch ein Opfer der Katastrophe geworden. Bitte, Christel, laß Kaffee kochen, ein paar Eimer voll, stark braucht er ja nicht zu sein, aber heiß. Die meisten Bewohner der Untergasse haben sich in die Kirche geflüchtet, bring’s ihnen hinüber! Ich will mich umziehen, dann komm’ ich nach; ich meine, die Leute möchten beten.“

Als er schon an der Thüre ist, wendet er sich noch mal: „Wenn du durch den Garten und über den Kirchhof gehst, kommst du ziemlich trocken hin. Ueberhaupt, hier herum ist’s gnädig abgegangen, aber dort unten – –“

Christel und die ganz verstörte Magd machen Feuer und schleppen Wasser herzu; nach einer halben Stunde ist der Trank fertig und in ein paar große Blecheimer gefüllt, mit diesen und einem Korb voll Tassen gehen beide nach der Kirche.

Das fremde Würmchen liegt und schläft in der Sofaecke, warm zugedeckt, auch die Kranke ist entschlummert nach einem Opiat, und der junge Anto liegt mit seinem Lockenkopf auf dem Bette der Mutter, ebenfalls schlafend.

In dem sonst so schmucken Gotteshause sieht’s bunt aus. Die Leute, wie sie gerade aus den Betten gesprungen sind, hocken da, kaum notdürftig bedeckt mit ein paar geretteten Kleidungsstücken, zwischen Hausrat, Kühen, Ziegen, heulenden Hunden und schreienden Kindern; klagende jammernde Frauen und finster dreinblickcnde Männer, alles Bewohner des unteren Dorfes, deren kleine einstöckige Häuserchen mit Wasser buchstäblich angefüllt sind, die die Angst um das Leben in die Flucht trieb, die ihr bißchen Hab’ und Gut im Stich lassen mußten, froh, das nackte Leben retten zu können. Am Altar steht der Dorfschulze mit Mohrmann, und der Küster, der eben vom Turm gestiegen ist, meldet, daß alles Land herum einem großen See gleiche mit einigen kleinen Inseln darin. Heine ist nach dem Gutshof geritten, um dort nach dem Rechten zu sehen, obgleich bei der massiven festen Bauart wohl keine Gefahr für die Bewohner droht.

Gerade wie Christel eintritt, hat Anton sich zu den versammelten Leuten gewendet; er redet sie laut an, und plötzlich ist alles totenstill. Mit nicht zu bemeisterndem Herzklopfen lehnt sie sich an eine Bank; sie will umkehren, sie kann ihn nicht sprechen hören, aber willenlos horcht sie dennoch seinen Worten, und unaufhaltsam rinnt ein klarer Tropfen nach dem andern aus ihren Augen.

„Liebe Nachbarn! Ein schweres Geschick hat uns betroffen. Vor wenigen Stunden noch konnten wir hoffen, wenn auch keine brillante, so doch eine gute Mittelernte einzuheimsen in unsere Scheuern, jetzt ist alles vernichtet. Unsere Felder gleichen einem großen See, und wenn die Wasser sich verlieren, werden wir, wo heute noch die Aehren im Winde wogten, nichts weiter sehen als Schlamm und Vernichtung. Und nicht genug damit. Viele von euch haben flüchten müssen aus ihren Wohnungen, einigen ist das Vieh ertrunken, und zwei Familien haben die Fluten ein teures Menschenleben entrissen. Unser braver Mühlenbesitzer Gottlieb Thalweg hat beim Rettungswerke sein Leben gelassen – Ehre seinem Andenken! Und dem Tagelöhner Finke ist der einzige kleine Sohn ertrunken; das ist ein noch viel schwereres Schicksal.

Liebe Nachbarn, wir wollen getreulich zusammenhalten in unserer Not, und diejenigen, die weniger hart betroffen sind, wollen in Dankbarkeit den am meisten Geschädigten helfen, des Elends Herr zu werden. Ich fordere alle auf, die vorderhand kein Obdach haben, sich auf dem Gutshof zu melden, ich werde für Unterkommen sorgen. Ebenso mögen diejenigen, deren Futtervorrat weggeschwemmt ist, sich beim Herrn Inspektor Heine melden, wo ihnen mit so viel, wie wir entbehren können, Unterstützung werden soll; auch will ich für Nahrungsmittel Sorge tragen. Und nun bitte ich euch, unnützes Klagen und Jammern zu lassen, euch vielmehr mit Geduld zu fügen in das Schwere, das wir ja nicht selbst verschuldet haben. Die Sonne muß uns auch wieder scheinen, liebe Nachbarn. Guten Morgen und frischen Mut!“

Die Leute sind mäuschenstill, als er die Stufen herunterkommt, um dem Prediger Platz zu machen, der schlicht und einfach sagt: „Laßt uns beten!“ Und als das Amen erklungen, drängt sich alles zu Anton. „Wir danken Ihnen auch scheene, und wenn Sie erlauben, dann komme ich nachher!“ – „Ach, lieber Gott, es wäre uns auch lieber, wir brauchten Sie nicht zu inkommodieren.“ – „Herr Mohrmann, ich darf doch meine alte Mutter mitbringen?“ – Und so weiter, ins Unendliche. Von einem dichten Knäuel Menschen umgeben, strebt Anton der Thüre zu, wo der Fuchs unter dem kleinen Portal angebunden steht. Er sieht Christel nicht, denn sie hat sich auf die Bank gekauert, aber sie sieht ihn, und aus ihrem erblaßten Gesicht blicken ihm die treuen blauen Augen nach, von Thränen verschleiert.

Auf einmal hört sie neben sich sagen: „Der kann auch ’n Lied singen von den letzten Tagen, ei Gottchen! Mit dem möcht’ ich ooch nich tauschen. Gestern abend is ’m die Frau ausgerissen. So ein albernes Geschege, hat keen Nu und keen Nischt gehabt, wie er sie nahm, und das is nu der Dank! Ei Gottchen, man soll bloß nich denken, wenn die Leute reich sind, daß sonst alles stimmt.“

„Nu, hären Sie, Bulingen, wenn er auch gleich prügelt! Es hat ja was Fürchterliches gegäm zwischen die Eheleite, aber prügeln darf er doch auch nicht glei?“

„Nee, das is nich wahr, das sind nischt wie Lügen, der haut nich!“

„Sie soll aber dagelegen ham wie tot vorgestern abend –“

„Na, vor Wut! Ach nee, das is schon lange kee Glück mehr gewesen.“

Und eine furchtbar dicke Frau, die in ein altes Umschlagetuch gewickelt ist, sagt: „Na, fort is se, mit oder ohne Prügel, und das is seine Strafe vor die erste, die sie gemeinschaftlich hinausgegrault hatten – ich gönn’s allen beeden, wenn nur die Kinder nich wär’n.“

Christel erhebt sich plötzlich, wendet den Leuten den Rücken, damit sie in der lichter gewordenen Dämmerung nicht erkannt werde, und geht in einen Seitengang, und dort hockt sie sich auf die Schwelle der Thür, die zum Glockenturm führt, und hält den Kopf mit beiden Händen. „Mein Gott, mein Gott!“ stöhnt sie leise. „Bin ich deshalb hergekommen, um ihn so elend wiederzusehen? Gieb, daß das alles nicht wahr ist, lieber, barmherziger Gott!“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0310.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)