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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

beschützt, ich dank’ dir, nicht einmal gefragt: Wann kommst du wieder?

Und jetzt ist er fort!

Aber nein, das ist Unsinn, ist unmöglich, so geht ein Bruder nicht fort von seiner Schwester. Er hat nur geglaubt, daß er fort kann von ihr, und wird schon sehen, daß er’s nicht kann, und wird zurückkommen und sie wird ihn auslachen. Sie stand und wartete und wartete und lehnte die Stirn an die Thür und schloß die Augen und wurde sehr schläfrig. Auf einmal fuhr es ihr durch den Kopf, daß sich Joseph einen Spaß mit ihr gemacht hatte. Nun dann – warte! Sie war sogleich umgestimmt, ging ins Schlafzimmer zurück zu ihrem Schranke, versteckte die aufgesprengte Sparbüchse in eine seiner Ecken, schlüpfte in ihr Bett und sann Rachepläne aus, über denen sie einschlief. Ihr Schlaf war aber unruhig und sie hatte einen schweren Traum. Sie sah ein Schiff auf hoher wilder See mit dem Sturme ringen. Turmhohe Wogen fegten alle Menschen vom Verdecke weg, ein einziger hing noch am Maste, sie kannte ihn, es war Joseph. Und nun fuhr ein Blitz vom Himmel und schlug in den Mast, und krachend stürzte er nieder.

Elika fuhr auf aus dem Schlafe in Angstschweiß gebadet, mit ungestüm pochendem Herzen. Am Horizont erglomm und erlosch ein fahles Leuchten, der Donner grollte, der Sturm pfiff und rüttelte an den Fenstern und Thüren des alten Hauses. Und plötzlich schoß ein wilder, toller Regenguß nieder, nahm den Kampf auf mit dem Sturme und besiegte ihn und prasselte fadengerade nieder auf die Bäume, auf das Dach und verwandelte die Traufen in brausende Wasserstürze. Das war lustig anzuhören vom Bette aus; aber die Armen, die draußen sind auf freiem Felde, die Armen, die auf offener Straße wandern – o die Armen!

„Joseph!“ rief die Kleine unwillkürlich aus, und nun war ihre Wärterin erwacht, trat an die Thür und horchte. Elika rührte sich nicht. Poli soll glauben, daß sie aus dem Traume gerufen hat, Poli soll wieder zur Ruhe gehen und schlafen, so tief wie früher. Das braucht die Kleine zur Ausführung des Entschlusses, den sie gefaßt hat, der ihr Gewißheit verschaffen soll. Sie hält den Zweifel nicht aus, der von neuem in ihr lebendig geworden ist.

Und nun wieder warten, eine endlose, fürchterliche Viertelstunde! Alles still nebenan. Sie wagt es – erhebt sich leise, unhörbar, schlüpft in die Badeschuhe, zieht ihr Röckchen an und schleicht hinaus auf den Gang.

Der Regen prallt vom steinernen Geländer ab, spritzt ihr ins Gesicht, in die Augen, der Boden ist überschwemmt. Sie ist naß bis auf die Haut, ehe sie zu dem geschlossenen Gange kommt, auf den die Thür des Betsaals mündet, und die des Zimmers, das Joseph bewohnt, und weiter dann der Eingang zur Treppe des Sibyllenturms. Tiefste Dunkelheit herrschte, Elika tappte sich an der Wand weiter. Da fiel plötzlich ein Lichtschein auf den Boden vor ihr; die Thür des Betsaals hatte sich geöffnet und heraus trat Tante Renate, eine Laterne in der Hand. Elika kauerte nieder und hielt den Atem an. Die Tante schritt weiter, ohne sich umzusehen, aufrecht in ihrer stillen, feierlichen Art. Vor dem Zimmer Josephs hielt sie an. Ihre Lippen bewegten sich nicht und doch sah man, daß sie betete. Mit einer schönen, großen Gebärde voll inbrünstiger Andacht machte sie das Zeichen des Kreuzes über die Thür, setzte ihren Weg fort und verschwand am Ende des Ganges.

Nun regte sich nichts mehr. Hastig, in fiebernder Eile, schritt Elika dem Zimmer Josephs zu. Sie wußte, daß sie es unverschlossen finden werde. Sich einsperren ist feig, sagte er.

Sie war bei ihm. Er hatte wieder geraucht, der Ungehorsame. „Joseph!“ rief sie in die Dunkelheit hinein und brauchte nicht zu fürchten, gehört zu werden. Es war niemand in der Nähe, Joseph wohnte schon seit einem Jahre allein und unbeaufsichtigt. „Schläfst du, Murmeltier, oder thust dergleichen? Hör’ einmal auf mit deinen Dummheiten, mein Guter.“

Keine Antwort, aber ein dumpfes Knurren ließ sich hören. Der alte, blinde, halbtaube Teckel war aufgestanden vom Polster neben dem Schreibtisch, stieß jämmerlich an ein paar Stühle an und trottete herbei auf seinen kurzen Pfoten. Er beschnüffelte die Füße Elikas, winselte, richtete sich an ihr auf und leckte wie bittend, wie heischend ihre Hände.

„Dackerl, wo ist dein Herr?“ fragte sie entsetzt. In Josephs Gegenwart hatte der Hund keine Liebkosung für einen andern.

Die Kleine trat an den Tisch, suchte unter Mineralien, ausgegrabenen Pflanzen, Samenproben, die dort in wüster Unordnung lagen, nach dem Feuerzeug, fand es und machte Licht.

Das Bett war unberührt. Er ist fort. Er hat gethan, wie er gesagt hat und was nicht geschehen darf – was sie verhüten wird. Auf, auf, das Haus! Einspannen, satteln, ihm nach! Sie weiß den Weg, den er genommen hat. Man holt ihn ein.

„Hilf, Heiland, hilf!“ ruft Elika zu dem Christusbilde über dem Bett empor. Es sieht ernst zu ihr nieder, vorwurfsvoll. Die Augen Josephs – alle finden es – haben Aehnlichkeit mit den Augen des Menschensohns. Und diese Augen sprechen: einer von euch wird mich verraten.

Aufschluchzend im schwersten Kampf, in einem nie gekannten Schmerze, sank die Kleine vor dem Bette nieder und küßte die Kissen, auf denen sein liebes Haupt geruht hatte. „Ich nicht,“ sprach sie, „deine Schwester nicht.“


„Gott im Himmel, wie sieht das Kind heute wieder aus!“ jammerte Apollonia am nächsten Morgen. „Schneeweißes Gesicht und rote Augen. Hat gewiß nicht geschlafen, hat gewiß Kopfschmerzen!“

Elika warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. Sie konnte unwillkürlich zur Verräterin an Joseph werden. Es stand auf ihrer Stirn geschrieben: Ich habe etwas Schreckliches erlebt, ich habe einen großen Schmerz. Bald wird Joseph vermißt werden, man wird ihn suchen und nicht finden und dann gewiß fragen: Warum war Elika so verweint? und gewiß erraten: Sie hat um seine Flucht gewußt. Was sie dann thun und sagen werde, ahnte sie nicht, ihr war nur, als stände sie vor einer furchtbaren Gefahr, und sie betete zu Gott um Errettung aus ihrer Seelenpein, aus der entsetzlichen Klemme zwischen Verrat und Lüge.

Im Hause herrschte Bestürzung, als alle Nachforschungen nach Joseph fruchtlos blieben und Luise und Heideschmied sich seines seltsam aufgeregten Benehmens erinnerten, das sich sehr wohl als ein Abschied von ihnen erklären ließ. Kosel und die Tanten glaubten nun bemerkt zu haben, daß er ihnen am letzten Abend vor dem Schlafengehen mit besonderer Innigkeit die Hand geküßt hatte, und voll Rührung erzählten seine Brüder, wie gut er noch gewesen und zu ihnen gekommen war, als sie schon im Bette lagen, und ihnen „so lieb“ gesagt hatte: „Gott befohlen, Murmeltiere!“ Und Frau Heideschmied, die ihn die Marseillaise gelehrt, sprach von dem hinreißenden Ausdruck, mit dem er am Tage vor seiner Flucht den Vers: Le jour de gloire est arrive! gesungen hatte. Ueberhaupt war in letzter Zeit jedem Hausgenossen etwas Ungewöhnliches im Wesen Josephs aufgefallen. Jeder wollte von ihm außerordentlich berücksichtigt worden sein, jeder wußte täglich Neues von ihm zu sagen. Nur Elika wußte und sagte nichts. Sie war zu merkwürdig! sie verheimlichte ihr Leid, sie sprach den Namen Josephs nicht aus.

„Und doch,“ jammerte Apollonia, „frißt ihr die Sorge um ihn das Herz ab. Tag und Nacht sehnt sie sich nach ihm, hat keinen andern Gedanken. Ich seh’s ja, ich kenn’ sie ja. Sie ist wie der Papa, der weint auch nicht und spricht auch nicht und vergißt auch nicht.“

Große Beruhigung brachte allen Bewohnern von Schloß Velice ein Telegramm aus Hamburg: „Bin gesund, morgen auf See, Brief folgt, Grüße. Joseph Kosel, Schiffsjunge.“

Auf See! Schiffsjunge! die Brüder erfaßte ein Taumel. Joseph ist auf See, auf hoher See, ist ein Schiffsjunge auf einem großen ungeheuren Schiff. O, der sucht sich kein kleines aus!

Franz rannte in die Werkstätte zu Hanusch, der sein Freund geworden war seit der letzten Schlacht, und brachte ihm triumphierend die berauschende Kunde und fragte: „Möchtest du nicht auch ein Schiffsjunge sein? Möchtest du nicht auch auf hohe See?“

Hanusch blieb kühl. Von einer See, die in die Höhe steigt, konnt’ er sich keinen rechten Begriff machen, und zweifelte eigentlich an ihr.

Charlotte lief dem Herrn Pfarrer entgegen, als er sich zur

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0331.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)