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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

zirpend auf das Gezirpe der Waldvögelchen aufmerksam und der Gemahl flüsterte ihr ins Ohr:

„Sie singen nicht so lieblich wie du.“

Kosel, Leopold und Bornholm schlossen den Zug. Levin vernahm die Erörterungen Kosels über Pferdedressur nur noch wie ein Geräusch, das unartikuliert und gleichmäßig an ihm vorüberzog. Er horchte einer andern Stimme. Gedämpft und doch voll edlen Klanges sprach sie zu einem Kinde. Was sie sagte, verstand er nicht; aber sie that ihm wohl, glitt wie ein belebender Hauch über längst entschlafene Erinnerungen. Liebliche, holde aus der Kinderzeit, andere, die ihm schwer aufs Herz fielen. Sie mahnten an den Undank, mit dem er gar oft Liebe gelohnt, an die Opfer, die seine wilde Genußsucht gefordert hatte: Glück und Zukunft so manchen jungen Lebens für eine Stunde des Rausches. Häßlich mutete ihn heute an, was ihm damals süß und schön erschienen war. Er hätte die Gedanken daran aus seinem Gedächtnis wegtilgen mögen, aber sie blieben, sie bohrten sich ein, peinigten und quälten. Warum das auf einmal? War das Reue, die er abgeschworen, war das das sogenannte Gewissen, das er doch längst als etwas künstlich Anerzogenes abgethan hatte?

Als er diese Frage an sich stellte, klang leise Luisens Lachen zu ihm herüber mit seinem sanften weichen Schalle. Ihm war, als müsse er es schon einmal gehört haben in besseren Tagen, in einer helleren Welt.




Im Oktober stellte regnerisches Wetter sich ein; und wenn am Nachmittag auch nur eine drohende Wolke sich am Himmel zeigte, kam schon ein Wagen aus Velice angefahren, um Luise abzuholen. Sehr früh wurde er geschickt und spät wieder angespannt, um sie nach Hause zurückzubringen. Am liebsten hätte man sie beständig in guter Hut behalten und gar nicht fortgelassen. Sie war für die Tanten und für Kosel, wenn er nicht gerade an Zeitungen dachte oder auf irgend einem Steckenpferdchen einen Schulritt unternahm, ein Sorgenkind geworden. Man wußte, und es fiel ihr nicht ein, es zu leugnen, daß Bornholm sich täglich in Vrobek einfand. Ums Mittagsläuten kam er, blieb manchmal eine volle Stunde, manchmal nur wenige Minuten, und war immer wieder ein andrer Mensch. Heute still und in sich gekehrt, morgen heiter und mitteilsam, und dann plötzlich ergriffen wie von einem bösen Geist, hart, herb, aggressiv. Da erging er sich in Sarkasmen, die sie verletzten, in Lästerungen, die sie abstießen, und mehr als einmal hatte sie die Empfindung gehabt, daß auch er sich von ihr abgestoßen fühle und, von einem Kampfbedürfnis getrieben, daherkomme, Unruhe zu säen in ihr stilles Haus und Unfrieden in ihre gleichmütige Seele. Er ahnte nicht, wie sehr ihm das gelungen. Ihre vielgerühmte Heiterkeit war nur noch ein mühsam bewahrter, täuschender Schein. In Wahrheit lag sie im schwersten Kampfe mit sich selbst. Zu diesem Manne, in all seiner Kraft, Gesundheit, mit all den geistigen Fähigkeiten begabt, die seine ärgsten Schmäher gelten ließen, mit all seinem großen Reichtum, zog ein unwiderstehliches, oft bis zur Pein gesteigertes Mitleid sie hin. In solchen Augenblicken wurde diese Luise, die für so ruhig und kühl galt und sich selbst dafür hielt, von dem brennenden Wunsch erfaßt, zu ihm hinzutreten, beide Arme um ihn zu schlingen, seinen Kopf an ihr Herz zu ziehen, ihre Lippen auf seine Stirn zu drücken und zu sagen: Da, ruhe aus, du Unrast, da hast du dein Zuhause, da strömt dir ein Quell unerschöpflicher Liebe und all der Nachsicht, die du brauchst. An diese Liebe kannst du glauben, du Glaubensloser.

Sie stand am Fenster ihres Salons, von dem aus ein Stück des Weges zu überblicken war, der herüberführte von Valahora. Wenn er heute nicht käme – es wäre gut. Sie wünschte es fast. Sie wünschte einmal wieder Renatens besorgte Frage: ‚Hast du Besuch gehabt?‘ mit Nein beantworten zu können. Und Bornholm war gestern ungewöhnlich mild gestimmt und vertrauensselig gewesen – da gab es am Tage darauf regelmäßig einen Rückschlag. Vielleicht fand er es heute schon recht unnütz, daß er von der Jugend seiner Mutter, von ihrem Martyrium gesprochen hatte. Sie war auch eine von den Vielen gewesen, die, zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen, dem Wohl einer Gesamtheit zum Opfer gebracht werden. Höchst alltäglich der Anfang dieser Lebens- und Leidensgeschichte. Zwei junge Liebende, verarmten Adelshäusern entsprossen, von Eltern erzogen, denen alles eher möglich erschien, als daß eines ihrer Kinder seinen eigenen Willen haben könnte. Ihn, den jüngsten von sechs Söhnen, bestimmte der Vater zur Auswanderung. „Du bist kühn, stark, hast Talent, hast Unternehmungsgeist; geh’ hin, verdien’ dir dein Brot, erwirb ein Vermögen, wenn du kannst.“ Wenn ich eins erwerbe, leg’ ich es dir zu Füßen, sprach er im Scheiden zur Geliebten und sie antwortete: Warte nicht zu lang, rufe mich, wenn die Trennung dir unerträglich wird. Ich komme über Meere und Länder. Es ist nie eine Botschaft von ihm zu ihr, von ihr zu ihm gelangt. Ihre Eltern, von den Gnaden Bornholms lebend, seiner Willkür unterworfen, stellten sich blind, ließen ihn schalten und walten, gaben zu, daß die Briefe des Ausgewanderten unterschlagen und vernichtet, die ihrer Tochter zurückbehalten wurden. „Du siehst, er hat dich vergessen, ist untreu,“ wiederholten sie ihr, wenn sie durch andere hörte, dem Geliebten ginge es gut, er sei wohlhabend geworden in Neusüdwales. Bornholm aber war treu, war der großmütige, immer helfende Freund, der Retter aus der Not – aus Unehre. Und sie, stark im Dulden, schwach im Thun, abwechselnd bedroht und angefleht, gab endlich nach.

Klägliche Jahre verflossen. Die Gattin Bornholms führte das peinvoll erniedrigende Leben einer edlen, feinfühligen, der Zärtlichkeit und der Eifersucht eines ungeliebten Mannes ausgelieferten Frau. Da verbreitete sich plötzlich die Kunde, ‚der Australier‘ kehre in die Heimat zurück. Ohne Zögern, als handle es sich nur um die Ausführung eines längst gefaßten Entschlusses, verkaufte Bornholm seine nordische Besitzung, zog hierher und erwarb das Gut Valahora. Dort spielte sich das Ende der Familientragödie ab. Dem „Australier“ gelang es, Beweise für die Niedertracht zu erlangen, mit der an ihm und an der Geliebten gehandelt worden war; er kam und forderte sie von dem Betrüger zurück, forderte Trennung der auf Lüge und Verrat gegründeten Ehe. Im Angesicht des Mannes rief er der Frau zu: „Rede! Wem hat dein Herz von Jugend auf gehört, wem gehört es noch?“ – Und im Angesicht des Mannes gab sie ihm Antwort.

Dieses eine und einzige Mal in ihrem armen verkümmerten Leben bäumte sie sich auf. Die Entrüstung, die Verzweiflung, die Nähe des Erwählten gaben ihr den Mut, ihre Lippen zum vollen stolzen Bekenntnis der Wahrheit zu öffnen:

„Wen ich geliebt habe, wen ich liebe brennend und sehnsüchtig? und ewig lieben werde? – Dich!“ – Das leidenschaftlich hervorgestoßene Bekenntnis war zugleich ein Abschied. Sie konnte ihm nicht folgen, ihren verabscheuten Quäler nicht verlassen. Ihre Ehe lösen, ihm folgen werde sie nicht. Sie hatte ja ihr Kind … Aber auch das sollte sie von Stunde an nicht mehr haben. Bornholm entfremdete es ihr, lehrte es, Grauen vor seiner Mutter zu empfinden. Von allem Unverzeihlichen, das sein Vater gethan, war das in den Augen Levins das Unverzeihlichste. Uebers Grab hinaus haßte und verabscheute er ihn dafür.

Dem furchtbaren Auftritt im Schlosse war ein Duell ohne Zeugen gefolgt. Die Kugel des Gegners und Rivalen konnte Bornholm nie aus dem Leibe geschnitten werden, mahnte ihn durch unausgesetzte Schmerzen an die bitterste und beschämendste Stunde seines Lebens. Ein Trost blieb ihm: Sein Schuß hatte noch besser getroffen als der des Feindes. Nach langem Siechtum schiffte dieser – ein vom Tode schon gezeichneter Mann – sich wieder nach Australien ein. Er wollte seine Ländereien und seine Homestation noch einmal sehen. Er wollte die Güter, die er für die Vielgeliebte erworben hatte, ihrem Kinde sichern und vertraute die Verwaltung treuen Händen an, aus denen der junge Erbe sie einst ungeschmälert erhalten sollte. Ein Gruß des Sterbenden, die Kunde seines Todes und seiner letzten Verfügungen gelangten nach Valahora und blieben unbestellt; ein Geheimnis für jeden so lange Bornholm noch lebte. Und dieses konnte Alwilde, die Levin sonst alles verriet, ihm nicht verraten. Die Zwei stachelten einander auf zum Hasse gegen den Herrn und den Vater. Im Herzen der Magd gärte er seit Jahren, im Herzen des Sohnes war er am Totenbett der Mutter erwacht. Ein furchtbares Verhältnis gestaltete sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0428.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)