Seite:Die Gartenlaube (1898) 0430.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

zwischen den beiden Bornholm. Der Alte entsetzlich in seiner geist- und herzlosen Tyrannei, Levin, als Knabe wie ein kleines Kind, als Jüngling wie ein Knabe behandelt, unablässig rebellierend.

Dann der plötzliche Tod des Bedrückers und sein Sohn aus atemraubender, herzbeklemmender Knechtschaft ohne Uebergang in absolute Ungebundenheit versetzt. Neunzehnjährig, frühreif, einer wild wuchernden Phantasie überantwortet, die ihm in den Jahren des Erwachens die Freuden des Lebens in einem Lichte zeigte, im Vergleich zu dem auch die schönste Wirklichkeit als trübe kahle Dämmerung erscheint. Und nun ein Hineinstürmen in diese Wirklichkeit, ein tolles Jagen, ein leidenschaftliches Ringen nach einem unerhörten Glück. Allmählich dann ein immer tiefer Sinken, ein Sinken bis zum Wüstling …

Am Schlusse dieser Beichte hatte Levin ausgerufen: „Und als es mir einmal einfiel, über mich nachzudenken und mich zu fragen: wie steht’s mit dir? lautete die Antwort: du bist verwelkt, ehe du geblüht. Das ist durch nichts mehr gut zu machen, keine Macht der Erde bringt ein, was da verloren ging. – Keinen barmherzigen Zweifel, ich bitte Sie,“ war er Luise, die sprechen wollte, ins Wort gefallen. „Halten Sie mich nicht etwa für trostbedürftig. Ich bedarf weder eines Trostes, noch eines Rates, ich spreche auch nicht zu Ihnen so aufrichtig über mich, weil ich die Schroffheiten und Härten meines Wesens mit der elenden Erziehung, die ich erhalten habe, entschuldigen will. Es ist ohne jede Absicht geschehen – und warum?“ In leichtfertig spöttischem Tone setzte er hinzu: „Vielleicht aus Dankbarkeit, weil Sie sich Mühe geben, mir Teilnahme zu zeigen, vielleicht, weil Sie eine große Kunst vortrefflich verstehen, die, aufmerksam zuzuhören.“

Damit war er aufgestanden und war gegangen, und hatte ihr nicht einmal Zeit gelassen, ihm Lebewohl zu sagen …

Zwölf Uhr. Das Gebimmel des Mittagsglöckchens durchzitterte die regenschwere Luft. Nun kommt er nicht mehr und das ist gut. Er sollte wirklich nicht täglich kommen, es gehört sich nicht und stört ihr den Frieden. Sie trat fort vom Fenster, sie hatte noch allerlei in ihrer kleinen Wirtschaft zu thun, Arbeiten zu beenden, die halb fertig auf dem Tische lagen, und auch noch Rechnungen abzuschließen. Heute nacht hatte es sie heiß überlaufen; da war ihr eingefallen, daß sie vergessen hatte, am vorigen Samstag ihre Wochenrechnungen zu bezahlen und ihre Krankenbesuche im Dorfe zu machen. Ein großes Unrecht. Ihr Interesse für Bornholm durfte sie keine Pflicht versäumen lassen, ihr Interesse für andere nicht in Schatten stellen. Und doch war’s geschehen. Sie gab sich genaue Rechenschaft davon. Seine breite Gestalt hatte sich zwischen sie und die ihr früher liebsten Menschen geschoben und ihr diese ferner gerückt. Die guten Tanten, den armen langweiligen Vetter Felix, seine Kinder, Elika sogar – alle, alle … Wie das nur gekommen war, und was ihr denn an ihm gefiel? Und gefiel er ihr denn überhaupt? Sie mußte sich gestehen: nein, vieles an ihm mißfiel ihr sogar entschieden und verletzte und beängstigte sie. Aber immer erwachte von neuem das grenzenlose Mitleid. Ein vielleicht falsch angewendetes Mitleid, ein unberechtigtes und vor der Vernunft kaum zu rechtfertigen. Aber komm’ zu Worte, Vernunft, du rechnende, du wägende, wo das Gefühl seine stürmische Stimme erhoben hat.

Indessen – trotz ihm! … Man kann es besiegen wollen, der Wille ist doch auch etwas … An dein Tagewerk, saumselige Hausfrau.

Sie verließ das Zimmer, hatte aber den Treppenabsatz kaum überschritten, als das Thor der Halle geöffnet wurde und Levin eintrat: „Guten Tag, Fräulein von Kosel,“ rief er zu ihr hinauf und schwenkte den Hut. „Störe ich Sie? haben Sie zu thun? Wenn ja, schicken Sie mich fort. Ich bitte nur um einen Augenblick Gehör, ich habe Ihnen etwas zu sagen.“

Er hatte in einem ihm ganz ungewöhnlichen Ton gesprochen, so unbefangen und heiter wie noch nie. War ein plötzliches Glück ihm begegnet? Er sah ganz danach aus.

„Ich habe wirklich zu thun,“ erwiderte sie, „aber mir scheint, daß Sie eine gute Nachricht zu bringen haben; die muß ich hören. Kommen Sie!“

Luise ging in den Salon zurück und Bornholm folgte ihr auf dem Fuße. Sie nahm Platz in der Ecke des Kanapees und er ihr gegenüber auf einem Sessel, vor dem mit Weißzeug und Näharbeiten bedeckten Tisch. „Die Nachricht, die ich bringe, ist wirklich gut,“ begann er, „gut für mich, sie betrifft mich allein; und doch drängt es mich, sie Ihnen mitzuteilen.“ Er zögerte ein wenig und sprach dann rasch: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel.“

„Das freut mich sehr,“ versetzte sie ernst, „dergleichen hört man immer gern. Und Ihre Nachricht?“

„Das eben ist meine Nachricht. Sie sind mir eine Wohlthat. Sie haben einen großen und guten Einfluß auf mich.“

Sie war im ersten Augenblick ratlos. Wie kam er dazu, ihr eine Art Freundschafts- und Vertrauenserklärung zu machen? Plötzlich, ohne die geringste unmittelbare Veranlassung? „Es freut mich sehr, wenn es so ist, Herr Bornholm,“ wiederholte sie, „und ich möchte wissen, an welchem Zeichen Sie diesen Einfluß erkennen. Ich habe noch nichts von ihm bemerkt.“

Seine Augen leuchteten auf und suchten den Blick der ihren festzuhalten: „Er besteht. Vom ersten Tag an, von noch früher an. Joseph hat mir Ihr Bild gezeigt und viel von Ihnen gesprochen. Ich habe diesen Einfluß von Tag zu Tag mehr empfunden. Heilen wird auch er mich nicht, aber über einige Monate meines Lebens kann er mich gelinder, als es mir sonst zu teil wird, hinwegbringen. Entziehen Sie ihn mir nicht.“

„Warum sollt’ ich das?“ fragte Luise unsicher und befangen.

„Man rät es Ihnen, Menschen, die Ihnen teuer sind, raten es Ihnen … Ob eindringlich, mit vielen Worten, ob stumm – durch kummervolle Mienen, ist ja gleich … Ihr Vetter Kosel – ich komme jetzt auf das, womit ich hätte anfangen sollen – ist bei mir gewesen vorhin. Eben. Er kam – als Sendbote, gewiß – eigene Initiative ist nicht sein Fall – mir anzudeuten, daß meine Besuche bei Ihnen unpassend gefunden werden. Ich war mehr aufs Erraten als aufs Verstehen angewiesen – die letzte Nummer der „Evening News“ lag auf dem Tisch … Sie begreifen, da konnte er doch nicht bei der Stange bleiben … Wie er daheim bestehen soll im Examen über den Erfolg seiner Mission, ist mir unklar, und klar nur, daß er sie hatte … und denken Sie, Fräulein von Kosel! mit meiner Kunst, das Unangenehmste für das Nächstliegende zu halten – ergriff mich die Sorge, er habe die Mission von Ihnen.“

„Irrtum,“ sprach Luise.

„Ich weiß … Ich dachte es mir gleich. Sie würden mir nicht durch einen Dritten sagen lassen: ‚Ihre Anwesenheit bei mir erregt Aergernis. Bleiben Sie fort‘ … Ich weiß noch etwas. Sie sagen das überhaupt nicht. Sie sind zu stolz und unabhängig, um Ihre Handlungsweise zu ändern, weil alberne Leute an ihr Anstoß nehmen könnten.“

Luise hatte den Kopf gesenkt, erhob ihn nun und versetzte mit einem herzgewinnenden Lächeln: „Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, Sie thun mir unrecht, oder, Sie thun mir zu viel Ehre an. Eben heute habe ich überlegt, ob ich nicht gut thäte, Sie zu bitten, seltener zu kommen.“

„Der Leute wegen?“

„Der Leute wegen, die Sie albern nennen, und die es so gar nicht sind.“

„Wohl denn!“ rief er, „ich geb’ es zu, es sind die respektabelsten Leute – aber auch durch die sollen Sie sich nicht bestimmen lassen, mich vor die Thür zu setzen.“ Er schien ganz und gar aus seinem Charakter gefallen, sein männliches Gesicht nahm einen geradezu kindlichen Ausdruck an und es lag eine erstaunliche Naivetät in dem Tone, in dem er ihr zum drittenmal die Versicherung gab: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel!“




„Tante Luise!“ rief jetzt eine junge Stimme, und Elika öffnete die Thür so weit als nötig, um ihren Kopf durchzustecken. Beim Anblick Bornholms stotterte sie: „O – o!“ … zögerte ein wenig und trat dann ein und sah in ihrem langen lichten Regenmantel mit aufgestülpter Kaputze hübsch und herzig aus. Luise war rot geworden, Bornholm plötzlich in Verstimmung geraten.

„Frau Heideschmied ist auch da,“ sprach Elika, aber mehr um das peinliche Schweigen zu brechen, als um auf die Anwesenheit der Französin aufmerksam zu machen, die ihren Mantel auf dem Palier abgelegt hatte und jetzt knapp vor der Thür eine zierliche Reverenz ins Werk setzte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0430.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)