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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sie sah ihn noch immer, den erstaunten, verständnislosen Blick, mit dem er auf ihre kleine Gestalt in dem schwarzen Trauerkleid herabschaute! Sie fühlte jetzt noch seine kühle Hand ohne Gegendruck und ohne Regung in ihren zuckenden Fingerchen! Sie hörte heute noch die kaltklingende Stimme fragen: „Wie bist du hier hereingekommen, Alexandra? Wo ist Françoise?“

„Ich – ich weiß nicht!“ hatte sie hervorgestottert. Und dann mit hervorbrechenden Thränen: „Es ist so schrecklich!“

„Was ist schrecklich?“

„Ohne Mama zu sein! Ich – du – du – sollst mir von ihr erzählen, wie – Maria es – immer that!“

„Hilft dir das etwas? Bekommst du dadurch deine Mutter zurück? Du weißt es doch, man hat es dir doch erklärt: sie ist tot und kann nicht wiederkommen!“

In ungläubigem Schreck hatten ihre großen Augen – so ganz die Augen der Verstorbenen! – zu ihm in die Höhe gesehen. War das alles – der ganze Trost, den der Vater für sein Kind hatte? Fiel es ihm gar nicht ein, seinen Arm um die schmächtige kleine Gestalt zu legen, sie an sein Herz zu nehmen und ihr zu sagen, daß er sie liebe, doppelt liebe, nun sie ohne Mutter war, und daß er immer, immer für sie da sein wolle?

Nein – es fiel ihm nicht ein! Er sah ratlos und ein wenig verlegen auf das Kind, dessen Augen schon wieder mit Thränen gefüllt waren, nieder, und dann warf er einen Seitenblick auf seine Arbeiten auf dem Schreibtisch, an deren Weiterführung Alix’ Eintritt ihn verhindert hatte. Er wartete ein Weilchen, ob sie seine Frage über die Toten beantworten würde; da es nicht geschah, erhob er sich von seinem Sessel.

„Komm’ jetzt mit mir, wir wollen Françoise suchen. Wie durfte sie dich allein lassen?“

Im Korridor kam ihnen schon Françoise, die ihre kleine Pflegebefohlene suchte, entgegen.

„Sie dürfen Alexandra nicht verlassen. Sie ist zu mir auf mein Zimmer gekommen, das darf sich nicht wiederholen. Sie muß in angemessener Weise beschäftigt werden, bis Fräulein Normann zurückkehrt, Sie haben dafür zu sorgen!“

Die Französin hatte sich stumm verbeugt und das Kind bei der Hand genommen.

Ach, sie hatte später auch versucht, ihn mit schüchternen kleinen Aufmerksamkeiten zu erfreuen; sie hatte ihm Blumensträußchen auf den Schreibtisch gestellt, ihm die schönsten Trauben und Pfirsiche selbst gepflückt und neben sein Couvert gelegt – sie hatte Mamas Bild bekränzt und ihm ein hübsches französisches Gedicht aufgeschrieben: er nahm kaum Nottz davon oder er schob die Dinge einfach beiseite, als wären sie ihm nur im Wege. Wenn ihr Geburtstag kam, erhielt Fräulein Normann eine Summe Geldes, um einzukaufen, was sie für gut fand.

Da hieß es denn: „Dies Kleid und dieser Hut und diese schöne Pariser Puppe ist von Papa. Geh’ hin zu ihm, Alix, und bedank’ dich!“ Dieser Dank fiel, da das Kind den Zusammenhang der Dinge durchschaute, sehr kurz und formell aus, aber das schien Herrn von Hofmann gerade recht zu sein.

– – – Maria Normann hatte sich während ihres Dresdner Aufenthaltes mit dem Oberlehrer Laurentius verlobt. Der Brautstand mußte einige Jahre dauern, da der Bräutigam noch ohne Anstellung war. Während dieser Jahre blieb die Erzieherin bei Alix in Josephsthal. Das Kind entwickelte sich geistig wie körperlich ungewöhnlich früh, es dachte sehr selbständig und beobachtete scharf. Körperlich war es sehr zart, es wuchs rasch, war blutarm, und der Arzt verordnete die äußerste Schonung. In jedem Sommer mußte Maria Normann mit Alix in ein anderes Bad gehen; jetzt war es Höhenluft, die sie atmen sollte, jetzt mußte sie Solbäder nehmen, dann wieder wochenlang im Nadelwald leben.

Als die Erzieherin heiratete, stand ihr Zögling im zwölften Jahr, und Herr von Hofmann entschloß sich kurz, seine Tochter aus dem Hause zu geben. Wollte Maria Normann sie in ihr Heim aufnehmen, das in Frankfurt am Main lag, und für geeignete Lehrer sorgen, die des Mädchens Bildung weiter förderten, so war der Vater bereit, eine sehr namhafte Summe jährlich zu diesem Zweck herzugeben; wollte die Erzieherin dies nicht, so galt es, in irgend einer Großstadt eine anderweitige gute Pension ausfindig zu machen.

Es war weder Maria noch ihrem Verlobten ein besonders angenehmer Gedanke, ihren jungen Ehestand gleich mit einer in gewisser Weise verwöhnten und anspruchsvollen Pensionärin zu beginnen, so gut auch das reiche Jahrgeld dem unbemittelten Paar zu statten gekommen wäre. Die Erzieherin war zu gewissenhaft, einen so hohen Preis entgegenzunehmen, wenn sie nicht als Entgelt dafür ihre ganze Persönlichkeit, nach wie vor, einsetzen konnte. So wurde, nach langem, sorgfältigem Erwägen, ein vortreffliches Pensionat in Dresden ausgewählt und Alix dorthin gebracht. Es ging aber nicht nach Wunsch. Briefe voll leidenschaftlicher Sehnsucht, voll trübseliger Klagen kamen an Maria – inständige Bitten des Mädchens, es doch um Gottes Willen in ihr Heim aufzunehmen, machten dieser das Herz schwer, und auch als Herr von Hofmann seine Tochter nach Brüssel in ein großartiges Fräulein-Institut gebracht hatte, beharrte Alix dabei: glücklich werde sie sich erst wieder fühlen, wenn sie bei ihrer Maria leben werde. Da entschloß sich diese denn endlich, nachzugeben. Sie sprach eingehend mit ihrem Gatten, sie schrieb ausführlich an Herrn von Hofmann, und das Resultat davon war, daß das Ehepaar Laurentius samt dem kleinen Werner eine neue, sehr geräumige und elegante Wohnung bezog und die drei schönsten Zimmer derselben mit allem Luxus und Komfort für Alix von Hofmann und Françoise eingerichtet wurden. Der Professor selbst übernahm einige Unterrichtsstunden bei dem sechzehnjährigen Mädchen, für die übrigen Fächer wurden die besten Lehrkräfte herangezogen, und die junge Erbin war endlich, wie sie immer wieder mit tiefer Befriedigung erklärte, „nach Hause gekommen“. Das Ehepaar Laurentius ließ es sich dann auch angelegen sein, dem aufgeweckten Mädchen zu Vergnügen und anregenden Zerstreuungen zu verhelfen. Alix besuchte die besten Konzerte und Theateraufführungen, sie bekam Reitunterricht, sie nahm teil an Bällen und Maskenfesten, sie ging zu den Verwandten nach England, aber immer kehrte sie voll Dank und Freude in „ihr Heim“ zurück, und wie man die Professorin vielfach um den „Goldfisch“, der eine so glänzende Pension zahlte, beneidete, so schwärmten wiederum Alix’ Freundinnen für die Familie, bei der sie eine so sichere Zuflucht gefunden, die so reizende Tanzfeste und Lesekränzchen zu arrangieren wußte, die immer etwas Neues und Hübsches erfand, was die jungen Gemüter anregte.

Daß Alix bei ihrem Aeußern und ihrem Vermögen viele Freier fand, verstand sich von selbst. Im ganzen hatte sie Herren gegenüber ein ziemlich herbes, absprechendes Wesen, und die Professorin, die sie gern recht liebenswürdig und verbindlich gesehen hätte, tadelte sie oft darum. Das hatte aber wenig Erfolg. Mit ihrem kurzen, spöttischen Lachen pflegte Alix zu erwidern: „Vorläufig gefällt mir von allen Männern, die ich kenne, am besten immer dein Mann – und du mußt doch zugeben, daß ich mich gegen ihn weder hochmütig noch ablehnend betrage. Nun also! Was willst du eigentlich von mir?“

Ihren Vater sah Alix verhältnismäßig häufig. Er hatte sie in Dresden und in Brüssel besucht, er passierte auch Frankfurt oft; seine ausgedehnten geschäftlichen Beziehungen machten ihm viele Reisen zur Bedingung. Auf seine Art war er jetzt mit seiner Tochter ganz zufrieden. Sie sah schön und vornehm aus, sie hatte gute Manieren, verwandte ihr vieles Geld vernünftig, kleidete sich elegant und hatte es allgemach aufgegeben, ihm mit ihren Gefühlsanwandlungen zu kommen. Ob ihr dies schwer fiel, ob sie innerlich darunter litt, darüber machte sich Herr von Hofmann weiter keine Gedanken. Er war fest davon überzeugt, ein sehr guter Vater zu sein. Jeder Wunsch von Alix, der ihm während ihrer Minderjährigkeit von Maria Laurentius gewissenhaft unterbreitet wurde, fand bei ihm Gewährung: das junge Mädchen durfte sich ein schönes englisches Reitpferd kaufen und einen Groom zur Begleitung halten – es hatte eine Loge in der Oper, konnte auf Reisen gehen, wann und wohin es ihm beliebte, zahlte die höchsten Honorare für seine Stunden und war in der guten Gesellschaft einer der ersten „stars“. Noch weniger hatte der Vater etwas dagegen, daß das Mädchen so viel Körbe austeilte. Ihm eilte es keineswegs damit, die Tochter, nun er sie so gut untergebracht wußte, besonders frühzeitig zu verheiraten. Er hatte so seinen stillen Plan, der ihm noch nicht reif genug dünkte … war er das, so würde er dessen Verwirklichung schon durchzusetzen wissen, und bis dahin konnte es ihm nur lieb sein, wenn Alix die Turandot spielte!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0487.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)