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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

warum sie denn gestern nicht gekommen sei. In beweglichen Worten belehrte ich sie über die Autorität der Gerichte, Verpflichtung der Staatsbürger und ähnliche Ideale, an die ein ganz junger Kriminalist noch zu glauben pflegt. „Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie denn verlangen, daß ich gestern kommen solle; es war doch Freitag, und ich konnte doch zum erstenmal in meinem Leben zu Gericht nicht an einem Freitag kommen!“ Das war die ganze Entschuldigung der Dame.

Als ich meine Fassung halbwegs wieder gefunden hatte, hielt ich ihr trotz ihrer Schönheit doch anerkennenswert barsch vor, daß die anderen Leute, denen sie an Bildung „himmelhoch“ überlegen sei, ganz brav erschienen seien, obwohl es für sie doch auch Freitag war.

„Aber ich bitte Sie,“ war die erstaunliche Antwort, „diese Leute – das ist ja ganz etwas anderes, die empfinden doch nicht so fein.“

Daß man aber selbst in der Verbrecherwelt Leuten begegnen kann, die ähnlich „fein“ empfinden, sollte ich bald erfahren. Man hatte einen berüchtigten, oft abgestraften Einbrecher auf frischer That ertappt; sein Gehilfe wurde zwar gesehen, er entwischte aber. Aus früheren Raubzügen des Eingelieferten wußte man, daß er regelmäßig denselben Genossen hatte, dieser wurde daher ausgeforscht und verhaftet. Er beteuerte hoch und heilig, diesmal unschuldig zu sein. „Ich könnt’s fast beweisen, daß ich’s nicht war, aber Sie werden mir’s nicht glauben.“ Mehr war aus ihm nicht herauszubringen, doch als sich die Schlinge immer fester um seinen Hals schnürte, rückte er endlich mit einer Erzählung hervor: „Wir hätten unser drei von der Partie sein sollen,“ meinte der alte Gauner; „ich hätte wirklich damals mitgehen sollen; aber als ich aus dem Hause trat, um mich auf den Intippel (Rendezvousplatz) zu begeben, begegnete mir ein altes Weib. Ich bin gar nicht abergläubisch, aber zu später Nachtstunde, wo sonst kein Mensch in der Straße war, einem alten Weib zu begegnen – das kann nichts Gutes bedeuten, und so kehrte ich um und ließ die zwei andern allein arbeiten.“

Mir war es damals noch neu, daß ausgepichte Verbrecherseelen an dem harmlosen Jägeraberglauben mit dem alten Weibe festhalten, aber mein Mann hatte so sicher gesprochen, daß es ja sein konnte.

In der That gelang es der Polizei, in der fraglichen Straße die alte Frau auszuforschen, die in jener Nacht ausgegangen war, um für ihre Nachbarin den Arzt zu holen; sie erinnerte sich, daß ihr ein Mann begegnet war, der sofort wieder umkehrte. Dies war ihr auffallend; sie sah sich um und konnte wahrnehmen, daß der Mann in ein Haus trat, welches allerdings das vom Genannten bewohnte war. Etwas von der Erzählung war also richtig und spätere Erhebungen konnten feststellen, daß der Mann diesmal wirklich „nicht von der Partie war“. Ausnahmsweise hatte also hier der Aberglaube einmal Gutes bewirkt.

Aehnliche Beobachtungen haben übrigens alle Kriminalisten gemacht: niemand hält auf Vorbedeutungen, gute und böse Zeichen, Ahnungen, glückliche und unglückliche Tage und ähnliches mehr als der richtige Gauner, und viele Verbrechen sind lediglich deshalb unterblieben, weil irgend ein Zeichen „dagegenstand“. Ich glaube übrigens, daß „große“ Gauner, namentlich solche, die in einer kleineren oder größeren Bande eine leitende Stellung einnehmen, mitunter Aberglauben vorschieben, um ein anderes Motiv damit zu decken; dies wird besonders dann vorkommen, wenn irgend ein Verbrechen geplant wurde, vor dessen Ausführung dem Leiter der Bande aus irgend einem Grunde angst wird. Dies gesteht er den anderen nicht gerne ein, da er durch ein solches Bangewerden, wenn es auch noch so berechtigt war, leicht um sein Ansehen kommen kann; viel bequemer und sicherer ist es, irgend ein böses Omen oder ähnliches vorzuschützen, denn dafür kann niemand und der Zweck wird erreicht, ohne sich erst gegen Einwendungen, Zureden etc. wehren zu müssen. –

Als ich später in eine kleine Landstadt, nicht weit von der ungarischen Grenze, versetzt wurde, hatte ich reichliche Gelegenheit, im Bereiche meiner Berufsthätigkeit Aberglauben über Aberglauben zu finden. Gleich in den ersten Tagen hatte ich in der Apotheke zu thun, als ein Mann eintrat und Krokodilfett verlangte. Der Apotheker verschwand und brachte dann ein winziges Klümpchen grünlichen Fettes, welches gut verwahrt und noch besser bezahlt wurde. Als der Mann fort war, sagte der Apotheker, ein gebildeter und höchst anständiger Mann, in entschuldigendem Tone: „Sehen Sie, als ich hierher kam, glaubte ich, die dummen Menschen gescheiter machen zu können, und wenn die einfältigen Käufer irgend welchen Unsinn von mir haben wollten, so belehrte ich sie und suchte sie zur Annahme des entsprechenden Mittels zu bewegen. Aber was war die Folge? Was sie bei mir nicht bekamen, holten sie in der nächsten Apotheke, beim Abdecker oder sonst wo; ja gewisse Substanzen verschafften sie sich in oft sehr bedenklicher Weise. Heute bekommen sie alles bei mir: Dachs-, Hunde-, Bären-, Krokodil-, Affen-, Schnecken-, Menschenfett, Skorpionöl, Regenwurmbalsam, Mithridat, Elephantenschweiß, Hexensalbe und Mitternachtstropfen.“

Der Mann hatte nicht so ganz unwahr gesprochen, und erst später wurde mir klar, was er mit den Worten „die Leute verschaffen sich manches in bedenklicher Weise“ gemeint hatte.

Gerade der finsterste Aberglaube verleitet die Menschen zu schweren Verbrechen. Wunderbare Wirkungen werden verschiedenen Dingen zugesprochen, die ohne Verbrechen schwerlich zu beschaffen sind. Menschenfett, das Blut unschuldiger Kinder, zu Neumond ausgegrabene Leichenteile u. dergl. sollen bald gegen Krankheiten helfen, bald die Entdeckung begangener Unthaten verhüten, bald zum Auffinden verborgener Schätze dienen. Bei Verblendeten und Wahnwitzigen, die sich in den Besitz solcher Dinge setzen wollen, wird der Aberglaube zur Triebfeder unbegreiflicher verbrecherischer Thaten. Noch im Jahre 1894 hat ein Prozeß das größte Aufsehen erregt, weil in ihm festgestellt wurde, daß man damals in Sizilien nicht weniger als zwanzig Kinder gemordet hatte, um mit deren Blute einen großen Schatz aus der Sarazenenzeit heben zu können.

In noch größerem Maße bestimmt der Glaube an böse Geister und Hexen unaufgeklärte Menschen zu verbrecherischen Handlungen.

Der ausgezeichnete russische Kriminalist August Löwenstimm hat hierüber ebenso mühsame wie belehrende Zusammenstellungen gemacht; er weist z. B. nach, daß Menschenopfer, namentlich zur Zeit großer Bedrängnisse, wie Hungersnot, Epidemien, Wetterschäden etc., in Rußland bis in die neueste Zeit zu verfolgen sind, so daß man mit Recht befürchten muß, daß sich auch jetzt noch solch’ entsetzliche Vorgänge wiederholen können, sobald einer der genannten Anlässe eintritt. So wurden im Gouvernement Archangelsk bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts dem Wassergeist regelmäßige Menschenopfer gebracht; 1855 begrub man im Nowgorodschen Kreise eine alte Frau lebendig, um die Cholera zu bannen, und dasselbe geschah 1861 mit einem jungen Mädchen anläßlich einer anderen Epidemie im Turuchanschen Gebiete. Als 1871 die Cholera sich um Torkatschi ausbreitete, war es nur einem Zufall zu danken, daß dort eine Bäuerin nicht geopfert wurde, aber noch später, 1881, hat man, allerdings bei den fernen Jakuten am Weißen Meere, ein Mädchen umgebracht, um einer fürchterlichen Hungersnot ein Ende zu machen.

Mit solchem Opferglauben stehen die Hexenprozesse im engsten Zusammenhange. Welcher unselige Wahn die Menschheit durch Jahrhunderte befangen hielt, welche entsetzliche Menge von Schmerzen, Qualen, Todesangst, Martern und Hinrichtungen der Hexenglaube gekostet hat, ist bekannt genug – man meint, daß man die Zahl der verbrannten und zu Tode gemarterten Hexen auf eine Million veranschlagen dürfe. Die letzten Hexenhinrichtungen in Europa fanden im vorigen Jahrhundert statt, aber in Mexiko wurden in San Juan noch 1874 zwei und 1877 fünf Frauen als Hexen von Amts wegen verbrannt!

Wenn auch die Justiz in Europa seit etwa 100 Jahren so Entsetzliches nicht mehr unternimmt, so lebt doch der Glaube an Hexen und Zauberer in verschiedenen Gegenden fort, und unaufgeklärte Volksmassen lassen sich noch hinreißen, an den unschuldig Verdächtigten Lynchjustiz zu üben. Noch 1836 haben Fischer auf der Halbinsel Hela bei Danzig eine Hexe ertränkt; aber von da an finden wir in Westeuropa wenigstens keine Mordthaten an Hexen mehr, immer nur wurden dieselben schwer mißhandelt, wobei meistens das vergossene Blut aufgefangen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0498.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2022)