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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Flügellahm.

Erzählung von Hans Arnold.

Das Tischgespräch an unserer Junggesellentafel hatte heute einen ungewöhnlich erregten Verlauf genommen. Ein uns allen bekannter und mehr oder weniger nahestehender junger Mann aus bester Familie und von vielverheißenden Anlagen hatte sich das Leben genommen; es hieß: eine unerwiderte Leidenschaft habe ihn zu der Verzweiflungsthat getrieben. Der Vorfall fand die verschiedenste Beurteilung; es fehlte nicht an Stimmen, welche die That einer strengen Kritik unterwarfen; andere wollten es nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mann unserer Tage durch unglückliche Liebe dazu gebracht werden könnte, sich das Lehen zu nehmen, oder auch nur, einer solchen Leidenschaft überhaupt eine Gewalt einzuräumen, durch die bestehende Verhältnisse verändert oder gar umgestoßen würden. Am wärmsten hatte sich des Unglücklichen mein Freund Doktor Rütgers angenommen, ja, er war darüber in eine Erregtheit geraten, die ich sonst an dem ruhigen besonnenen Arzt nicht kannte. Doch als er wahrnahm, daß der Streit eine persönliche Wendung zu nehmen drohte, war er in Stillschweigen verfallen. Auch nach unserem Aufbruch schritt er eine ganze Weile schweigsam neben mir her. Erst als wir seine Wohnung erreichten, wandte er sich mir zu, während er mit den Augen gegen die Wolken deutete, aus denen eben vereinzelte große Regentropfen niederzufallen begannen.

„Wir werden heute wohl kaum zu unserem Abendspaziergang kommen,“ sagte er im Ton des Bedauerns. „Und doch drängt es mich, das Gespräch von heute mittag in Ruhe mit einem Freunde fortzusetzen. Jetzt ruft mich die Sprechstunde. Wie wär’ es aber, wenn Sie heute abend auf ein Glas Wein bei mir vorsprächen. Ich bin ganz allein, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gerade heute Gesellschaft leisteten – es giebt Tage, wo man an seinen Gedanken keinen gemütlichen Verkehr hat!“

Ich sagte zu, und der Abend fand mich bei ihm in seinem Landhaus, das er allein bewohnte und mit feinem Geschmack und behaglichem Sinne eingerichtet hatte.

Wir saßen in einem großen Zimmer, durch dessen weit geöffnete Thür man in einen stillen, altmodischen Garten sah, der sich in leicht aufsteigendem Herbstnebel in unermeßliche Weite zu verlieren schien, obwohl er nur eng begrenzt war. Die Luft war still und warm, das Windlicht auf unserm Tisch flackerte nur eben so viel, um ab und zu zitternde Lichter in unsere Rotweingläser zu streuen. Die Einrichtung des Zimmers war einfach und behaglich – auffallend darin nur das fein ausgeführte Pastellbild eines jugendschönen Mannes in Reiteruniform, das uns gerade gegenüber hing. Ich konnte mich von dem Gesicht nicht los machen – die schwermütigen Augen standen in einem so seltsamen Gegensatz zu der strahlenden Fröhlichkeit, welche das ganze Gesicht übersonnte. Mit der Zeit wurde ich zerstreut und wortkarg; mein Freund folgte der Richtung meiner Augen und lächelte trübe vor sich hin.

„Das Bild da thut es Ihnen wohl an?“ frug er. „Das glaube ich gern. Und wenn Sie ihn erst selber damals gekannt hätten, dann hätten Sie den Zauber noch viel mehr empfunden, den er auf seine Umgebung ausübte. An ihn habe ich heute mittag denken müssen, als ich mich des unglücklichen Selbstmörders annahm, den die andern verurteilten. Er hat sich zwar nicht wie jener das Leben genommen, Gott sei Dank, nein; aber sein Schicksal lehrte mich die Macht der Leidenschaft kennen, als deren Opfer mir der Verstorbene erscheint.

Er ließ seine Augen mit fast zärtlicher Trauer auf dem kleinen Bilde ruhen und schwieg eine lange Zeit.

„Ja, so sah er aus, und so war er,“ begann er dann. „Als ich ihn kennenlernte, hatte er als junger Kavallerielieutnant seine Garnison in der Universitätsstadt, in der ich vorübergehend thätig war. Ich arbeitete dort als Assistent an einer Klinik, schon mit der festen Absicht, sehr bald die Praxis eines Freundes in einem kleinen Nordseebade zu übernehmen.

Wir wohnten in einem Hause, ohne uns zunächst persönlich zu kennen; ich hatte bloß immer mein Vergnügen an seiner feurigen, ritterlichen Erscheinung und seinem schönen Gesicht; oft bin ich auf meinem Wege stehen geblieben und habe ihm zugesehen, wie er davonritt und wieder zurückkam – es war ein Anblick zum Freuen. Wir kamen mit der Zeit auf stummen Grüßfuß, und dann wurde ich eines Nachts herausgeklingelt und zu ihm gerufen – er war sehr rasch an einer Lungenentzündung erkrankt, und sein Bursche lief in Angst die Treppe zu mir hinauf, um mich zu holen.

Die vierzehn Tage, die er da krank lag, führten mich täglich – oft mehrmals – zu ihm, nicht so sehr, weil er meiner ärztlichen Hilfe so viel bedurft hätte, als weil er mich so interessierte und anzog und weil er mich dauerte! Er stand ganz allein in der Welt, ohne Eltern und Geschwister.

Ich gewöhnte mir bald an, die Abende bei ihm zu bleiben, die er in seiner Rekonvalescenz noch zu Hause verleben mußte, und wie es so geht, ein paar Wochen täglichen Zusammenseins thun unter Umständen mehr als Jahre – wir waren rasch bekannt und befreundet, und die Freundschaft hat Farbe gehalten.

Eines Abends hatte er mich wieder zu sich bitten lassen – wir saßen am Kaminfeuer bei einer Flasche Wein zusammen, er kam mir ungewöhnlich still und nachdenklich vor.

Ich frug ihn nach dem Grund.

‚Ich bin heute dreiundzwanzig Jahr,‘ sagte er, schenkte mir ein frisches Glas ein und ließ das seine dagegen klingen, ‚wie kommt es nur, daß man an solchen Tagen plötzlich so ernsthaft werden kann – daß sie einem vielmal vergehn wie jeder andere Tag und dann auf einmal vor den Augen als Meilensteine in die Höhe ragen, auf denen allerhand unbequeme, rätselhafte Geschichten stehen?‘

,Das sind Rekonvalescenten-Stimmungen,‘ sagte ich, ‚weiter nichts!‘

Er lächelte gedankenvoll und traurig.

,Bei mir ist es doch ein bißchen mehr,‘ erwiderte er, ,ich bin in einer ganz infamen Situation, Doktor, und ich möchte Ihnen heute mal davon erzählen. Ganz kurz – fürchten Sie keine lange Geschichte! Ich bin, wie Sie wissen, der Besitzer eines großen Majorats, außerdem durch das Vermögen meiner Mutter sorgenfrei gestellt, kurz, in Bezug auf äußere Verhältnisse verzogen und verwöhnt. Da findet plötzlich ein Rechtsanwalt in alten Papieren einen Anhalt, daß ich, weil meine Mutter eine Engländerin ist, für das Majorat nicht erbberechtigt bin, ein anderer Anwärter tritt auf, strengt einen Prozeß gegen mich an – und die Sache geht in letzter Zeit fieberhaft vorwärts – es kann wohl sein, daß sie in diesem Jahr zur Entscheidung kommt.‘

Er schwieg einen Augenblick und starrte ins Feuer. ,Und seitdem bin ich aus allem Behagen gehetzt, ich sehe die ungewisse Zukunft immer wie ein heimtückisches Irrlicht vor mir hertanzen, und ich muß nach – es ist, als wenn ich keinen freien Willen mehr hätte. Bei allem, was ich thue, treibe und anfange, im Beruf, in der Fürsorge für den Besitz, immer murmelt mir eine höhnische Stimme ins Ohr: Wer weiß, ob es sich lohnt, – es ist wie eine Begleitmelodie, und ich muß darauf hören!’

Ich sah ihn aufmerksam an, während er so sprach, es war ein seltsamer Zug von Unruhe und Abgespanntheit in sein Gesicht gekommen, den ich früher nicht darin bemerkt hatte.

,Ich wollte manchmal,’ fuhr er nach einer Weile fort, ‚ich hätte den elenden Prozeß schon verloren – dann wüßte ich, woran ich wäre; aber so – begreifen Sie das, Rütgers? Mir ist immer wie dem Sindbad aus dem alten Märchen, der sein Haus auf den Kraken gebaut hat und sich da ganz häuslich niederläßt – besinnen Sie sich auf die Geschichte? Wie plötzlich der schwammige Boden unter ihm zu leben anfängt, und das Meertier taucht unter, und er schwimmt im grundlosen Wasser? Und der Sindbad war ein energischer Kerl, der kam durch; ich aber – passen Sie mal auf – ich schwimme nicht weit.‘

Er stützte den Kopf in die Hand und verstummte – er that mir so leid.

,Aber Senden,‘ sagte ich, ‚nehmen Sie es doch nicht so schwer. Selbst wenn Sie den Prozeß verlören, bleibt Ihnen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0532.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2022)