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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Er küßte ihr mit einem bittenden Blick die Hand und erwiderte kein Wort.

Sie schwieg auch eine ganze Weile.

‚Kannst du sie denn nicht vergessen?‘ frug sie endlich mit gepreßter Stimme.

,Nein!‘ sagte er mit einer gewissen zornigen Leidenschaftlichkeit, ,das ist es ja gerade – ich kann nicht! Ich gebe mir alle mögliche Mühe! Denkst du denn, daß es hübsch ist, so innerlich wie dürres Holz zu verbrennen?‘

Sie nahm ihm das Skizzenbuch aus der Hand und wollte das Blatt herauslösen.

,Nein!‘ sagte er heftig und rasch und griff danach.

Sie klappte das Buch schweigend zu und legte es vor ihn hin.

Er hielt ihre Hand fest und lehnte die Stirn darauf.

,Habe nur weiter Geduld mit mir!‘ sagte er halblaut, ,du hast sie ja schon so lange gehabt! Wenn ich erst wieder ganz gesund bin, überwinde ich auch alles viel leichter und es geht mir ja so viel besser!‘

Sie hatten beide meine Anwesenheit entschieden vergessen; ich stand leise auf und schickte mich an, zu gehen.

Ich hörte nur noch, wie Annie sagte: ,Ja, Allan, du mußt aber auch wollen,‘ und er erwiderte so recht aus Herzensgrund: ,Ja, ich will – ich will wirklich!‘

Als ich ein paar Schritte weit gethan hatte, kam Annie eilig hinter mir her und stand neben mir.

‚Nun?‘ frug ich sanft, als sie nur atemlos blieb und mich mit einer bangen stummen Frage ansah.

,Glauben Sie, daß das noch einmal anders wird?‘ frug sie dann; aber ehe ich etwas erwidern konnte, schüttelte sie nur den Kopf und ging zurück.

Ob dieser Tag einen wirklichen innerlichen Abschnitt dargestellt hatte – ob das göttliche Frühherbstwetter dazu beitrug – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Allan sich zu erholen und zu beruhigen begann.

Ich fand seinen Zustand so viel besser, was die äußeren Symptome betraf, daß ich mit Frau v. Redebusch ernstlich darüber zu Rate ging, ob man die Hochzeit nicht beschleunigen und die beiden in ruhigem, gefestigtem Zusammenleben dem Einfluß der Häuslichkeit überlassen sollte.

Ich warf die Frage auch Allan gegenüber hin, der mit lebhafter Befriedigung darauf einging und durch kein Wort, durch keine Miene anzudeuten schien, daß er sich nicht fest genug fühlte, um sich ganz zu binden.

Annie hatte in diesem Fall, wie in jedem andern, keinen Wunsch für sich, sondern nur für ihn – sie war mit allem einverstanden. Als wir gegen Abend auf der Seeschloßterrasse saßen, sprachen wir so ruhig, so friedlich und mit so fest umrissenen Plänen von der Zukunft, wie man das immer thut, wenn man einmal vergißt, wie wenig sie in unsern Händen liegt.

Allan wollte noch an demselben Nachmittag wegen verschiedener Förmlichkeiten und Papiere nach seinem Heimatsorte schreiben, und sowie das Wetter rauher geworden sei, sollte man abreisen. So war der allgemeine Plan, dem ich als Arzt und Freund nur zustimmen konnte, da ich diese köstlichen ersten Septembertage für meinen Patienten gern noch ausgenutzt hätte.

Er ging der eben erwähnten Schreibereien halber allein nach unserer Wohnung, und ich folgte ihm etwa eine Stunde später.

Zu meiner Ueberraschung fand ich sein Zimmer leer.

Ich weiß selbst nicht zu sagen, warum mir das, was doch oft vorkam, an diesem Abend solchen unheimlichen Eindruck machte. Ich ging mehrmals aus – am Strande entlang – nach den Dünen – und endlich kehrte ich in mein Studierzimmer zurück und suchte meine schweren Gedanken durch Arbeit zu verjagen, was mir sonst immer sehr leicht gelang.

Es war schon dunkel und ich wollte eben nach der Lampe klingeln, als die Thür ungestüm aufging und Allan vor mir stand – zerzaust vom Wind, mit dunkelglühenden Augen in dem farblosen Gesicht.

Ich sprang hastig auf.

,Was ist dir?‘ frug ich erschrocken.

Er faßte meine Hand mit eisernem Griff. ,Sie ist wieder da!‘ brachte er mühsam hervor. Dann ließ er sich langsam und schwer in einen Sessel an meinem Tisch fallen und starrte vor sich hin: ,Jetzt ist alles zu Ende!‘

,Infam!‘ sagte ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen vor mich hin – Wut und Jammer über den neuen Querstrich, den das Schicksal mit seinem schwarzen Pinsel durch unser friedliches Bild zog, raubten mir fast die Sprache.

Da er immer noch schwieg und nur von Minute zu Minute blasser wurde, faßte ich ihn heftig an der Schulter.

,Du wirst dich doch nicht fürchten?‘ frug ich nachdrücklich und fast verächtlich, als ich den Ausdruck seines Gesichtes sah.

Er lachte kurz und bitter auf.

‚Nicht? Doch! Ich fürchte mich – ganz feige – ganz gemein! Ich fürchte mich nicht bloß vor ihr selber – ich fürchte mich vor jedem, der ihr auch nur ähnlich sieht! Wenn jemand auf der Straße nur den Kopf so hält, dann geht es mir wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder! Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, Rütgcrs – es wäre besser, ich machte ein Ende!‘

Ich schlug mit der geballten Hand auf den Tisch – ich war völlig außer mir.

,Und um dieses falsche, kalte, herzlose Geschöpf!‘ sagte ich vor mich hin.

Er faßte meine Hand und hielt sie fest. ,Aber Rütgers – da sie doch wiedergekommen ist! Warum hat sie denn das gethan? Sie muß doch dabei an mich gedacht haben! Hältst du es denn für ganz unmöglich, daß sie mich liebt?‘

,Ja!‘ sagte ich so hart, wie ich es in dem Augenblicke konnte, ,das halte ich für unmöglich, denn sie kann überhaupt nicht lieben! Gewinne heute deinen Prozeß – sei der fürstlich reiche Mann, für den du gegolten hast – dann wird sie sich vielleicht den Anschein geben, als wenn sie dich liebte. Das ist so ungefähr meine Taxe ihres Charakters – und Gott verzeihe mir, wenn ich ihr Unrecht thue!‘ Es war ein gespannter Zug in sein Gesicht gekommen.

,Denkst du wirklich, daß sie es dann thäte?’ frug er in hastigem gequälten Ton.

Ich machte mich ungeduldig los.

,Laß mich!‘ sagte ich, ,du bist nicht zurechnungsfähig – du bist kein Mann!‘

Er nickte ein paarmal schwer vor sich hin.

,Du hast recht!‘ sagte er, ,du hast leider ganz recht!‘


Es giebt Zeiten im Leben, in denen die Ereignisse über uns herstürzen wie ein entfesselter Wasserstrom, uns den Atem, die Ruhe, die Entschlußfähigkeit zu rauben suchen, daß wir von Stunde zu Stunde uns mühsam durch das Toben der Elemente durchkämpfen und dabei immer wieder aufs neue empfinden, wie wehrlos wir sind.

Es mochten wohl solche Gedanken gewesen sein, die mich gerade in diesen Tagen auf einer Wanderung über die Dünen getrieben hatten – durch die willkürlich gestalteten, zackig wilden, dicht bewachsenen Hügel, die da, von elementarer Gewalt neben- und aufeinander getürmt, so schweigsam in der Herbstsonne lagen.

Ich warf mich ins kräftig duftende Strandgras und sah in die flimmernde Luft hinaus.

Ein seltsamer, still sausender Wind war um mich her – das tiefe Gefühl friedlicher Einsamkeit kam mit seiner ganzen Gewalt über mich – ich hätte hier vergessen können, daß es noch andere Stürme giebt als die das Meer bewegen.

Ich schloß die Augen und hörte so traumverloren auf die tausend kleinen, flüsternden, surrenden, summenden Stimmen der Jnsektenwelt um mich her, die in dem Grase da ihr kleines Leben auslebte, und der es vielleicht – wer kann es wissen – ebenso wichtig, ebenso lang und – ebenso traurig erschien wie uns Menschen das unsere.

So lag ich eine ganze lange Zeit, die Sonne ging schon nieder, ein kalter Luftstrom strich über meine Stirn.

Ein Rascheln im Grase, wie von leichten Schritten, ließ mich aufblicken, ich war auf den Füßen, wie gerüstet gegen einen Feind.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0571.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)