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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sinaide stand vor mir, mit einem stillen blassen Gesicht, aus dem jede Spur ihres funkelnden schillernden Wesens wie weggelöscht schien – der schöne, übermütige Mund schwieg ernsthaft.

Die Schlange hatte sich wieder einmal gehäutet – und wie sie in der Abendsonne so vor mir stand, empfand ich, daß sie nie schöner und verwirrender gewesen war als in diesem Augenblick.

Wir sprachen beide eine ganze Weile nicht.

Endlich nahm ich das Wort – so kalt und ruhig, wie ich es konnte.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich.

Sie stand regungslos vor mir und sah mich unverwandt an, während die sonderbaren Augen wie dunkelblaue Edelsteine aus dem blassen Gesicht hervorfunkelten.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich nochmals und wich ihrem Blick nicht aus.

Sie ließ langsam – langsam den Kopf sinken.

‚Sie wissen es!‘ sagte sie fast unhörbar.

‚Nein!‘ erwiderte ich eiskalt.

Sie trat rasch einen Schritt näher.

‚Sie wissen es!‘ wiederholte sie fest und rasch, ‚lügen Sie nicht! Sehen Sie mir ins Gesicht und sagen Sie, daß Sie es nicht wissen, wenn Sie den Mut dazu haben!‘

Ihre Farbe kam und ging unaufhörlich, aber ihre Augen klammerten sich förmlich an mich an, mit einem wilden, finsteren, geheimnisvollen und schmerzlichen Lächeln.

Ich faßte ihr schmales Handgelenk mit einem so harten, unbarmherzigen Griff, als wenn ich es zerbrechen könnte.

‚Und wenn ich es weiß!‘ stieß ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, ,und wenn es um meinetwillen geschehen ist, so sage ich Ihnen, daß ich mein Herz lieber mit diesen meinen beiden Händen aus der Brust reißen und fortschleudern würde – in das Meer dort – ehe ich –‘

Ich unterbrach mich – der tobende Kampf in mir wurde wilder und wilder – er drohte mich zu ersticken und zu bewältigen! Sie stand immer noch, wie sie gestanden hatte – ein Zittern lief wie Wellengekräusel über ihre schlanke Gestalt, aber das Gesicht blieb wie versteinert in seinem sonderbaren Ausdruck.

,Sagen Sie mir nur eins!‘ begann sie dann, immer mit der seltsam sanften Stimme, die in einem so bethörenden Gegensatz zu ihrem Gesicht und zu ihrem Worte stand, ‚nur eins! Wenn das, was in den letzten Wochen hier geschah, was ich – und Sie – und wir alle hier erlebt haben – wenn das nicht geschehen wäre, wäre ich Ihnen dann gleichgültig geblieben?‘

Ich stand eine Weile stumm und starr – mir war, als wenn jemand einen blutroten Schleier immer vor meine Augen hielt und wieder fortzöge – ich wollte nichts antworten und fühlte doch, daß ich es in der nächsten Minute thun würde – und ehe ich es selbst wußte und wollte und hindern konnte, hatte ich ‚Nein!‘ geantwortet.

Und da sagte sie mit einem fremden, tiefen, glückseligen Ton, in dem trotz allem eine Leidenschaft lag, wie eine Flamme, die durch dürres Heidegras auflodert, nur ‚Gott sei Dank!‘

Und wie sie so stand, den Kopf zurückgeworfen, die Augen wie in Selbstvergessenheit emporgerichtet – um sie her, wie ein Königsmantel, die feurige wilde Glut des Abendhimmels – da fühlte ich, als wenn das Wort mit Riesenlettern vor mir geschrieben gestanden hätte, daß es hier nur eins gab – Flucht!

Ich wandte mich um und stürzte fort – am Meer entlang – und weiter und weiter – ohne Zweck – ohne Ziel – wie gejagt von einer wilden Angst, daß ich mir selbst und dem liebsten Menschen, den ich auf Erden hatte, untreu werden könnte.

Ich fand mich endlich erschöpft, wie zerbrochen und zerschlagen am entlegenen Strande wieder – ich war ganz unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, in meinem Kopf wirbelte nur das düstre Bibelwort umher: ‚Wir haben nicht mit Fleisch oder Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen und Mächten der Finsternis!‘

Wie ich nach Hause und zur Ruhe kam, das weiß ich nicht mehr – ich entsinne mich nur, wie ich den nächsten Morgen, als ich erwachte, ein Gefühl dumpfer Verwunderung hatte, daß zwischen gestern und heute nur eine Nacht lag – mir war, als müßten es ein paar Tage gewesen sein.


Zwei Tage waren seit meiner Begegnung mit Sinaide verstrichen – in der alten krankhaften Aufregung für meinen armen Freund. Er schwand förmlich hin in dieser Zeit und wenn ich nachts aufwachte, hörte ich sein dumpfes, trauriges Husten durch das Haus schallen – es zerriß mir das Herz!

Ich sah Annie nicht – ich konnte mich nicht entschließen, ihr unter die Augen zu treten, und bald sah ich auch Allan kaum!

Er wich mir mit einer Art von düsterem Trotz aus, denn ich hatte ihm heftig, so heftig wie ich empfand, gesagt, ihm bliebe jetzt als anständigem Menschen nur das eine übrig: abzureisen und der Versuchung aus dem Wege zu gehn, die – freilich ohne sein Verschulden – wieder wie ein unübersteiglicher Felsblock in seinem Wege lag und ihm freien Blick und freien Schritt hemmte. Die Folge war, daß er noch am selben Tage mit Sack und Pack ohne Abschiedswort von mir fort und in ein alleinstehendes Haus zog, das zwischen meiner Wohnung und der Villa des Generals lag – in den sogenannten „Outlander“, ein schmales, dunkles, leicht gebautes Holzhaus, das ich seiner Bauart und exponierten Lage halber für ihn gerade nicht gewählt hatte. Wie viel zu diesem Entschluß der Umstand beitrug, daß er aus den Fenstern des Outlanders die Thüren und Fenster der Villa Bella sehen und dem unseligen Feuer, das ihn verzehrte, beständig Nahrung zuführen konnte – wie viel das dabei mitsprach, ich weiß es nicht.

Ich meine immer, ich sehe ihn noch vor mir, wie er so blaß und still dort am Fenster stand, die Stirne mit den davor gefalteten Händen an die Scheiben gedrückt, und mit dem finstern, leidenschaftlichen Blick, der seine Augen kaum mehr verließ, nach dem Hause starrte, wo Sinaide ein- und ausging.

Daß die Menschen – wenige waren es noch in dieser Zeit – mit einer Art scheuer Verwunderung nach ihm hinaufblickten, wenn er dort so stand, das schien er nicht zu bemerken, jedenfalls beachtete er es nicht.

So gingen ein paar Tage hin, bis ich eines Morgens zu Frau v. Redebusch gerufen wurde, die an einem Rückfall ihres alten Leidens daniederlag. Als ich aus dem Krankenzimmer kam, fand ich Annie allein, mit einer ihr sonst fremden Hast beschäftigt, allerlei Kleinigkeiten in der Wohnung zusammenzuräumen. – Auf meinen stummen, fragenden Blick sagte sie nur mit einem müden Lächeln: ‚Verzeihen Sie die Unordnung hier – wir wollen, sobald es Mutters Gesundheit erlaubt, nach der Stadt zurück – wir haben unsere Schiffe verbrannt!‘

‚Und Allan?‘ frug ich leise.

Sie schüttelte den Kopf und brach einen Augenblick in heißes, unbesiegliches Schluchzen aus – dann faßte sie sich schnell.

,Er geht mich nichts mehr an,‘ sagte sie mit fremder Stimme, ‚ich habe ihm heute morgen geschrieben, daß ich nicht die Kraft fühlte, ihm mein Wort zu halten – es ist alles aus! Aber er soll sich keine Vorwürfe machen – ich bin selbst schuld, daß es so kam – nicht durch das, was ich gethan habe, sondern durch das, was ich bin, und das läßt sich wohl schwer ändern!‘

Und sie ging wieder an ihre traurige Arbeit, das Zimmer, das ihren zierlichen Händen seine Behaglichkeit verdankte, unwohnlich und schmucklos zu machen.

Ich verließ sie – was konnte ich ihr auch sagen? – und ging an meine Berufswege.

Es war ein unerträglich schwüler, dumpfer Tag, und dabei ein Wind, wie man ihn an der See öfter findet, der heiß und stäubend mit wildem Pfeifen daherfegt, Wolken von feinem Sand aufwirbelt und mit ihnen die ganze Länge des Strandes einhüllt – gewöhnlich ist solcher Wind der Vorgänger der Springflut und schwerer Stürme. Am Horizont lag ein kupferfarbener, blutigfinsterer Streifen unheildrohend unter einer schieferblauen Wolkenschicht – die Fischer kamen alle nach Hause und ihre braunroten Segel standen wie düstre Vögel rings auf dem Meere. Das kochte und brodelte wie ein riesiger Hexenkessel und schillerte wie ein Schlangenpanzer in einem stumpfen, widerwärtigen Grau.

Als ich nach stundenlanger Arbeit, müde und zerquält an Leib und Seele, wieder nach Hause und am Outlander vorbeikam, stand Allans Wirtin in der Thür und winkte mir sorgenvoll zu: ‚Herr Doktor, wollen Sie nicht nach unserm jungen Herrn sehen? Wissen Sie nicht, wo er ist? – wenn er sich nur nichts anthut!‘

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0572.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)