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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Gefährtin sich ein wenig zurückhielt und mit dem Schirmchen in dem feuchten Gras am Weg herumstocherte.

Ich war hinter einen Baum getreten, um ungesehen die kleine Scene beobachten zu können. Ueber das Gesicht des Blinden ging ein Lächeln, das aber nicht das Grinsen eines Idioten war, seine Lippen bewegten sich, die Züge wurden plötzlich straff und ausdrucksvoll, während an seiner Körperhaltung sich nichts veränderte. Nur ein paarmal nickte er mit dem Kopfe, langsam und schwerfällig, wie wenn er etwas Schwieriges überlegte. Zumeist aber sprach das Mädchen, das sich zuweilen hastig umsah, ob auch niemand in der Nähe sei, die seltsame Zwiesprach zu belauschen. Auf einmal bückte sie sich tief hinab und drückte einen Kuß auf die mageren Hände des Mannes, der diese Liebkosung sich mit einem vergnügten Nicken gefallen ließ. Dann trat sie von ihm weg und setzte ihren Weg eilig fort, während sich ihre Freundin ebenfalls mit einem Streicheln der Hand von dem Blinden verabschiedete.

Nun erst trat ich hinter meinem Baum hervor und folgte wieder den ruhig dahinwandelnden Mädchen. Als ich bei dem Bettler vorbeikam, sah ich noch den Nachglanz der freundlichen Begrüßung, die er eben erfahren hatte, auf seinem Gesicht und hörte ihn in einem unverständlichen Gemurmel mit sich selbst sprechen. Doch wagte ich nicht, ihn anzureden. Ich war überzeugt, daß er sofort wieder in seine Versteinerung zurücksinken würde.

Auch wurde meine Aufmerksamkeit jetzt von den Mädchen erregt, die plötzlich zu singen anfingen. Ein ziemlich kunstloser Gesang, in welchem Fräulein Lischens scharfer Sopran gegen die zweite Stimme ihrer Gefährtin sich leidenschaftlich hervorthat. Das Lied, das sie sangen, hatte nicht den Klang eines der echten alten Volkslieder, erinnerte vielmehr an die sentimentalen Gesänge herumziehender Harfenmädchen, machte aber doch in der stillen, wolkenverhangenen Luft, unter der die Wälder und Wiesen wie in einen Traum versunken lagen, einen unwiderstehlichen Eindruck. Zumal nachdem ich, meinen Schritt beschleunigend, den Sängerinnen so nah gekommen war, daß ich wenigstens den unendlich wiederholten Refrain verstand, in den die Oberstimme ihre ganze herbe Kraft hineinlegte:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Wohl ein dutzendmal schlug diese wie eine Verwünschung hervorgestoßene Klage an mein Ohr; ich weiß nicht, ob das Lied so viel Strophen hatte, oder ob die Sängerin nicht oft genug eine und dieselbe unheimliche Weissagung einem fernen Ungetreuen nachrufen konnte.

Indessen war ich so nahe an die Sängerinnen herangekommen, daß sie sich belauscht sehen mußten. Wenn hin und wieder ein rascher Wagen an ihnen vorbeigesaust war, hatten sie ihr Duett nicht unterbrochen. Jetzt verstummten sie plötzlich.

Ich zog den Hut und bat um Entschuldigung, daß ich sie in ihrem Gesang unterbrochen hätte. Da ich aber ein Freund der Musik sei, möchten sie sich nicht stören lassen, zumal ich gern den Text des schönen Liedes erführe, von dem ich nur den Kehrreim verstanden hätte. Ob sie mir das Ganze nicht noch einmal vorsingen möchten?

Die Kleinere sah ihre Freundin an, die mit festgeschlossenen Lippen und gesenkten Augen halb abgewendet dastand. Nein, sagte sie dann, das gehe nicht an, dies Lied sängen sie nur unter vier Augen. Aber wenn der Herr sonst am Singen Spaß habe, sie wüßten noch eine Menge anderer Lieder, die hier in der Gegend gesungen würden, nicht wahr, Lischen?

Die andere nickte nur, schien aber wider meine Erwartung, obwohl sie den Mund zum Sprechen nicht aufthun mochte, nichts dagegen zu haben, einen Fremden ihre Stimme hören zu lassen. „Nur,“ sagte die Kleinere, „muß der Herr hinter uns hergehen, daß wir uns einbilden können, wir wären unter uns allein, und vergessen, daß jemand zuhört. Also komm, Lischen!“

Sie schlang den Arm um die Taille der Freundin, die den ihren wieder um den runden Nacken der andern legte, und so setzten sie, anmutig sich umfassend, den Weg fort, nun ein echtes Volkslied anstimmend, mit einer jener rührend schönen Melodien, die unsterblich von Geschlecht zu Geschlecht gehen, wie nur die Eingebungen der höchsten Meister.

Ich blieb immer vier Schritt hinter ihnen, und nur wenn wieder ein Lied zu Ende war, trat ich etwas näher, ihnen meinen Beifall auszusprechen und um eine Fortsetzung zu bitten. Darüber vergaß ich ganz, daß ich im Sinn gehabt hatte, sie auf eine unscheinbare Art über ihre persönlichen Verhältnisse und jene Scene mit dem Blinden von Dausenau auszufragen. Wir näherten uns der Stadt, da würden sie wohl mit dem Singen aufhören, und ein kleines Gespräch ließ sich noch anknüpfen.

Nicht weit von den ersten Häusern entfernt liegt ein Garten, in welchem die schönsten Rosen gezogen werden. Als wir dorthin gekommen waren, sah ich die Blicke der Kleineren – ihren Namen, Rikchen, hatte ich inzwischen erfragt – bewundernd über den Zaun schweifen, wo nach dem erquickenden Gewitterregen die dunklen und hellen Blüten an den hochstämmigen Rosenbäumchen in besonderer Herrlichkeit glänzten. „Sie sind Blumenfreundinnen?“ fragt’ ich. Und da die Kleine lächelnd nickte, bat ich sie, hier vor der Thür einen Augenblick zu warten, sie müßten mir erlauben, zum Dank für das schöne Konzert ihnen ein paar Rosen zu schenken.

Ich eilte mich, die Frau des Gärtners ausfindig zu machen, und ließ mir einige der stolzesten La France- und Maréchal Niel-Rosen von den Stöcken schneiden. Als ich aber damit wieder auf die Landstraße hinaustrat, waren meine Sängerinnen verschwunden. Ich ging, so rasch ich konnte, der Stadt zu, blickte nach dem anderen Ufer hinüber, ob sie sich vielleicht auf der Fähre hätten übersetzen lassen – nirgends eine Spur von ihnen. So mußte ich meine Blumen nach Hause tragen und sie zu meiner eigenen Augenweide in eine Vase stellen. Abends, als sie im Lampenschein noch wundersamer glühten und dufteten, dachte ich lange dem kleinen Abenteuer nach, und der schwermütige Refrain:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

hatte sich mir dergestalt im Ohre festgesetzt, daß ich ihn vor dem Einschlafen noch unzähligemal vor mich hin sang.

*  *  *

Am andern Morgen, als ich in die Trinkhalle trat, fand ich das Rikchen schon wieder eifrig beschäftigt, die Becher zu füllen und den Kurgästen hinzureichen. Sie erwiderte aber meinen Gruß nur mit einem ernsthaften Nicken, wie jedem Fremden, der ihr einen Guten Morgen wünschte, und als ich ihr das gefüllte Glas abnahm und ihr dabei zuraunte: „Warum sind Sie mir gestern abend so plötzlich verschwunden?“ zuckte sie nur mit den Achseln und gab deutlich zu verstehen, daß sie sich auf eine weitere Konversation nicht einzulassen wünsche.

Nicht besseres Glück hatte ich mit ihrer Freundin. Ich fand das Lischen wieder auf ihrer Bank in die Anbetung des schönen Bratschisten versunken, und da eben der Choral begonnen hatte, überhörte sie mein behutsames Nähertreten. Als ich aber, nachdem die letzte Note verklungen war, dicht hinter ihr „Guten Morgen, Fräulein Lischen!“ sagte, schnellte sie wie von einer Schlange gebissen in die Höhe. Ueber die schmalen wachsbleichen Wangen flog eine dunkle Röte, die großen grauen Augen starrten mich entgeistert, halb bittend, halb vorwurfsvoll an, und rasch ihr Tüchlein um die Schultern ziehend, eilte sie so hurtig, wie es ohne Aufsehn geschehen konnte, an mir vorbei durch die bunte Menge, die den Musikpavillon umgab.

Da stand ich nun mit meinen Rosen, die ich in der Hoffnung, sie wenigstens heute anbringen zu können, nach dem Brunnen mitgenommen hatte. „Die albernen Mädel!“ brummte ich ärgerlich bei mir selbst. „Sie konnten mir doch ansehen, daß unter meinen Rosen keine Schlange lauerte, die ihre Tugend in Gefahr brächte. Nun, es ist ihr eigener Schade. Vielleicht haben sie mit den Fremden allerlei Erfahrungen gemacht, daß sie jetzt auch gegen ältere Herren, die nichts Böses im Schilde führen, sich so ungebärdig stellen.“

Ich nahm mir vor, nun auch meinerseits sie so wenig zu beachten, als ob wir nie ein Wort miteinander getauscht hätten, und dachte an die ganze Begegnung nur noch, wenn mir einmal wieder jener schwermütig drohende Refrain im Ohre aufwachte. Von der Kleineren ließ ich mir nie mehr den Becher füllen. Der Bank, wo das Lischen seine Morgenandacht hielt, blieb ich geflissentlich fern.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0596.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2022)