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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

es noch am meisten mit ihm hielt; denn die anderen mochten ihn nicht.

„Stellen Sie sich vor: an dem Tage, wo das Unglück passierte, waren die beiden Musikanten nach dem Nachmittagskonzert spazieren gegangen, bis Dausenau, und hatten dort in einer Wirtschaft eine Flasche miteinander getrunken. Wie sie nun wieder nach der Stadt zurückgehen und denken an nichts Arges, kommt ihnen auf einmal der Sekretär entgegen. Sie ziehen die Hüte und wollen an ihm vorbei, er bleibt aber stehen und ersucht den schönen Schorsch, seinen verflossenen Schwiegersohn, ganz höflich um eine Unterredung von fünf Minuten. Das konnte der nicht abschlagen, obwohl er sich nichts Gutes von dem knurrigen alten Herrn, den er so schwer gekränkt hatte, versah. Ich geh’ einstweilen langsam voraus, hatte der andere Musikus gesagt; er blies in der Kapelle die Klarinette. Das thut er dann auch und hört noch hinter sich, wie Lischens Vater mit ganz ruhiger Stimme in den Geiger hineinredet und der ihm eben so ruhig antwortet. Auf einmal aber – er war noch keine fünfzig Schritt von den beiden entfernt – hört er den alten Herrn schreien: ,Du Schuft! du Hund! du meineidiger Lump!‘ und kehrt sich um und sieht, wie der Alte den andern an der Brust gepackt hat und ihn schüttelt wie einen Bund Flicken. ‚Mach Reu und Leid,‘ schreit der Alte. ,Du sollst ersticken an deiner Niedertracht, elender Schurke!‘ – und packt ihn immer fester und ringt mit ihm, der so viel größer und jünger war – beiden fallen die Hüte vom Kopf – der Schorsch will sich losreißen, der andere aber hält ihn wie mit eisernen Klammern, und eben da der Klarinettist hinzuspringen und seinem Freunde helfen will, sieht er, wie die beiden, die sich fest ineinander verbissen hatten, über den Rand des Weges den Abhang hinabgleiten, auf dem schlüpfrigen Grasboden ausrutschen und nun ohne Aufhalten zum Fluß hinunterrollen.

„Der Freund ihnen nach und kommt gerade recht, den Geiger an der Schulter zu packen und zu verhindern, daß der Alte ihn mit sich ins Wasser reißt. Wie er aber auch den greifen will, macht sein Kamerad sich eben selbst von ihm los und giebt ihm noch einen Stoß, daß er vollends vom Ufer in den Fluß stürzt. Bloß ein paar Augenblicke sei er unterm Wasser verschwunden, dann wieder aufgetaucht, und jetzt hätten sich die beiden Männer ganz entsetzt bemüht, ihn ans Land zu bringen, er habe sich aber wie ein Besessener gewehrt und immer wieder seinen Feind in den Fluß reißen wollen, niemand hätte so viel Kraft bei dem alten Schreiber gesucht. Endlich sei es wie eine Ohnmacht über ihn gekommen, da habe er die Arme wie gelähmt sinken lassen, die beiden andern konnten ihn vollends aufs Ufer hinaufziehen, und als dann gerade eine leere Kutsche oben auf der Chaussee daher rollte, die von Bad Nassau zurückkehrte, haben sie den bewußtlosen alten Mann in seinen triefenden Kleidern hineingehoben, Schorsch ist zu Fuß nach Ems gegangen, der andere hat den Geretteten in seiner Wohnung abgeliefert.

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„Der Klarinettist war eben gekommen, sich nach dem Zustand des Papas zu erkundigen. Im Auftrag seines Freundes, der sich nicht mehr in Lischens Haus getraute. Mich kannte er als ihre nächste Freundin, also hatte er kein Bedenken, mir den richtigen Hergang zu erzählen. Auch der Tochter hatte er ihn nicht verschwiegen. Und nun erklärte ich mir auch, wie sie so kalt und ungerührt das Unglück des Vaters hinnehmen konnte. Sie war böse auf ihn, weil er den Mann, den sie immer noch liebte, zu morden versucht hatte. Sie hatte nur seinen Freund beschworen, die Sache nicht vor Gericht zu bringen. Der Alte war ja auch gestraft genug; er mußte im Hinunterrollen mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufgestoßen sein, das hatte den Sehnerven verletzt, so war für die Augen, die ohnehin schon halbverdunkelt gewesen waren, keine Rettung mehr.

„Herr Georg denke nicht daran, seinen Angreifer zu verklagen, hatte der Freund erwidert. Ihm selbst würde es sehr fatal sein, wenn die Geschichte an die große Glocke käme. Und so nahm er auch mir das Ehrenwort ab, keiner Menschenseele in Ems davon zu reden, bis sich alles verblutet hätte. Sie sind der erste, dem ich’s erzählt habe. Aber Sie reisen ja auch wieder ab.

„Dann ist alles so weitergegangen, wie zu erwarten war. Seine Stelle beim Gericht hat der alte Mann natürlich verloren, da wirklich der letzte Schimmer seiner Sehkraft erloschen war. Von der kleinen Pension konnten zwei Menschen nicht gut leben. Das Lischen sah sich aber sofort nach einem Platz als Verkäuferin um, und da sie so hübsch anzusehen ist mit ihrer sanften Leidensmiene, fand sie auch bald ein Engagement und hoffte, der Papa werde inzwischen, bis sie wieder nach Hause kam, ruhig in seinem Lehnstuhl sitzen bleiben. Da aber kannte sie ihn schlecht. Er hatte noch sein altes hitziges Blut, das durch das Bad im Fluß nicht abgekühlt war. Er bestand darauf, seinem Kinde nicht zur Last zu fallen, sondern im Gegenteil, noch für sie weiterzusorgen, und wenn’s nicht durch Arbeiten geschehen könne, durch Betteln. Eine Schraube war jedenfalls bei dem Sturz in seinem Kopfe losgegangen. Er, der sonst so viel auf seine Ehre hielt, und jetzt den Hut hinhalten nach Almosen! Das Lischen warf sich auf die Kniee vor ihm und beschwor ihn, ihr die Schande nicht anzuthun. Alles umsonst. Er müsse eine anständige Mitgift für sie zusammenbringen, das sei er als Vater ihr schuldig, denn ein armes Mädchen, so schön und brav sie sei, bleibe sitzen, davon habe man Exempel. Und hartnäckig und eigensinnig wie er immer gewesen war, ließ er sich auch nicht ausreden, was er sich vorgenommen hatte. In Dausenau bei einer kleinen Schustersfamilie mußte ihm eine Kammer gemietet werden, die bezog er und nahm nichts mit als ein bißchen Wäsche und den verdorbenen Anzug, in welchem das Unglück geschehen war. Und gleich am Tage nach seinem Einzug stellte er sich an den Weg hin, genau so, wie Sie ihn auch gesehen haben, und sprach seitdem kaum noch das nötigste mit seinen Wirtsleuten oder ein paar Worte mehr mit seiner Tochter, wenn die ihn besuchte.

„Sie können sich vorstellen, wie der zu Mute war. In der Stadt schüttelten die Leute auch die Köpfe, und jeder wußte was anderes zu erzählen, wie der Herr Sekretär so heruntergekommen war. Wenn man das Lischen fragte, sagte sie nur, ihr armer Papa habe einen schweren Fall gethan und dabei das Augenlicht und den Verstand verloren. Sie hoffte noch immer, er werde dies jammervolle Leben satt bekommen. Daß sie ihm an Geld alles schickte, was sie sich selber abdarben konnte, versteht sich. Er nahm es auch in Empfang, that es aber regelmäßig in einen Kasten, zu dem er den Schlüssel bei sich führte, und sagte: ‚Mit der Zeit kommt doch was zusammen.‘ Er meinte, für ihre Aussteuer. Was er für die Miete und sein bißchen Essen brauchte, brachte ihm der Bettel ein.

„Uebrigens glaub’ ich steif und fest, daß er gar nicht unglücklich ist. Wenn man ihn so beobachtet, ohne daß er’s merkt, lacht er manchmal ganz vergnügt vor sich hin, mit einer Art schadenfroher Miene. Ich bin überzeugt, er glaubt, den Menschen, der seine Tochter unglücklich gemacht hat, in den Fluß gestürzt zu haben, so daß er darin ertrunken ist. Der Gedanke, sich an seinem Todfeind gerächt zu haben, füllt sein verwirrtes Gehirn so aus, wie andere das Bewußtsein einer guten That. Wenn er noch zu hören bekäme, Lischen habe einen braven Mann geheiratet, würde er mit keinem Könige tauschen.

„Daran ist nun leider kein Gedanke. Mehr als einer hat sich schon gemeldet, sie weist aber alle so deutlich und kurzangebunden ab, daß sie nicht zum zweitenmal anfragen. Sie selbst haben ja bemerkt, daß sie an ihrer unseligen ersten Liebe noch immer hängt. Manchmal freilich dämmert es auch in ihr auf, daß er doch vielleicht ein erbärmlicher Wicht sein möchte. Dann singt sie das Lied, das Sie damals gehört haben:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue –

aber wenn ich sie dann in diesem richtigen Gedanken bestärken will, nimmt sie gleich wieder eifrig seine Partei, und da seitdem auch von anderen liederlichen Suiten des schönen Schorsch nichts verlautet hat, bildet sich das arme Mädchen wirklich ein, er werde doch noch einmal zu ihr zurückkehren.“

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Wir hatten jetzt die Waldrestauration erreicht. Fräulein Rikchen stand still und sagte: „Bitte, lieber Herr, begleiten Sie mich nicht weiter. Sie wissen schon warum. Ich danke Ihnen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0635.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2023)