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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Montblanc.

Roman von Rudolph Stratz.


1.

Vorwärts – vorwärts! Unter den Hufen gleitet der Boden mit seinem zischelnden Zwergpalmengestrüpp und den weißblumigen Dornenhecken im Fluge dahin, vor den Augen tanzen Turbane und Flintenläufe, flatternde Mäntel und bezopfte Kabylenschädel, um die Ohren brandet in Sturmstößen der Höhenwind Marokkos, wie er von den wildgezackten, wolkenumzogenen Bergklippen des Kleinen Atlas hernieder in die Thäler fährt.

Vorwärts im grauen Abenddämmern auf schaukelndem Sattel, unter sich die unermüdlich galoppierende weiße Berberstute, hinter sich die kleine Karawane mit ihrem Rossegetrampel und Maultiergeschnarch und dem stöhnenden „Aerra – ärra! rrrrschât!“ der treibenden Knechte, und da vorne die weite Welt …

„Aerra! – ärra!“ Hinten klatscht es von Peitschenhieben. Die Galoppsprünge werden länger, schneidender pfeift der Abendhauch um die Ohren. Unter den Hufen fliegt der Boden, am Himmel fliegen die Wolken, rechts und links zieht einsam, gestrüppbewachsen, nebelumsponnen die Bergwüste wie ein Wandelbild dahin.

„Achtung, Herr!“ schrie von hinten mit gellender Stimme der maurische Diener und riß, sich im Sattel zurückwerfend, sein Pferd in die Höhe. Die Berberknechte thaten ebenso. Aufgeregt prustend, mit gespitzten Ohren drehten sich die Gäule in einem Wirbel umeinander und starrten aus ihren großen, feurigen Augen auf die schwarze Masse, die, schwerfällig den Berg niedertrollend, sich der Wildnis der Agavenhecken und des Zwergpalmengebüschs entwand.

Der Stier, der da zum Vorschein kam, war nicht weniger erschrocken. Er hatte friedlich gegen Abend zur Tränke ziehen wollen, jenem Abhang zu, an dessen Rand der Reitpfad sich hinzog, und sah sich nun unvermutet einem ganzen Schwarm von Feinden gegenüber. Fliehen war die Sache des stämmigen Gesellen nicht. War er, der nirgends Händel suchte, nun einmal in das Abenteuer geraten, so mußte es auch ausgefochten werden. So stand der Bulle denn kampflustig da. Aus dem tiefgesenkten Haupte glühten, mißtrauisch hin und her rollend, die Augen, der linke Vorderhuf scharrte den Boden und ein langes Zorngebrüll stieg aus seiner Brust.

Die Berber und der Maure waren zur Seite geritten. Sie riefen und winkten ihrem Herrn zu. Man müsse umkehren! Ein paar hundert Schritte zurück, dann über den Fluß und auf der andern Seite weiter. Hier gehe es nicht! Wenn einer der sonst friedlichen Stiere einmal erschrocken sei, lasse er niemand vorbei!

„Unsinn!“ sagte der Fremde auf arabisch kurz und ohne sich nach seinem Diener umzudrehen. „Ich gehe nicht zurück! Ich muß nach Tetuan!“

Jussuf, der Maure, machte eine Gebärde der Ratlosigkeit zu den halbnackt auf ihren Pferden und Maultieren kauernden Berberknechten. Seit fünf Tagen – seit sie von Fez aufgebrochen – begleitete er den Herrn und hatte schon lange bemerkt, daß das keiner der üblichen englischen Gentlemen war, die, die Stummelpfeife im Mund, ein wenig in Marokko kreuz und quer zu reiten lieben. Nein, das war kein Brite, sondern ein ‚Pruß‘, ein Deutscher. Und er kam nicht, wie alle Welt, von Tanger her, mit dem Dampfboot aus Gibraltar, sondern aus dem Süden, weit, weit aus entlegenen Ländern jenseit des großen Sandes, hinter dem in Wäldern das schwarze Volk wohnt, das keine Pferde reitet und nichts von Allah weiß. Dieser Gentleman war etwas Besonderes. Es war nicht möglich, ihn, wie andere Reisende, zu beeinflussen. Wenn er sich im Sattel aufrichtete und über die Ohren seines Pferdes hinweg in die Ferne schaute, als ob er da allerhand unsichtbare Wunder entdecken wollte – dann war gegen sein gleichgültiges und kurzes „Vorwärts!“ ebensoviel auszurichten als mit Koransprüchen gegen den Stier, der zornmütig des Angriffs harrend am Wege stand.

Der Stier war dumm. Der Fremde aber hatte das Fieber, und das war beinahe noch schlimmer! Sonst wäre er wohl der unvernünftigen Kreatur ausgewichen. Jetzt aber siedete das Blut in seinen Adern und zudem hatte er – Jussuf wußte es wohl – um sich im Sattel zu halten und um jeden Preis heute noch nach Tetuan zu kommen, seine halbe Flasche voll Feuerwasser – Allah schütze jeden Rechtgläubigen vor diesem Teufelstrank! – im Laufe des Tages ausgetrunken.

Jussuf zuckte die Achseln. Schon die Marokkaner, mit denen der Preuße von Süden her, aus Marrakesch, gezogen war, hatten ihm berichtet, daß jener dort schwer krank angekommen und vorher, in dem großen Sande, fast dem Fieber erlegen sei. Denn dort drüben – jenseit der Sahara, wo die Wälder sind und das schwarze Volk wohnt, dort stieg ja aus dem Sumpfe das Fieber und warf die weißen Männer nieder, die da Elfenbein suchten, und die braunen Moslem, die Sklaven jagten, und die seltsamen Menschen nicht minder, die keines von beiden thaten, sondern ohne Ziel und Zweck, mit allerhand Zauberinstrumenten versehen, durch die Wildnis reisten und nicht müde wurden, zu fragen, wo dieser Fluß hinfließe und wie hoch jener Berg sei und was der unnützen Dinge mehr waren.

Jussuf machte noch einen Versuch. „Wir müssen umkehren, Herr!“ sagte er in schmeichelndem Tone auf arabisch und um seine Lippen spielte ein unterwürfiges Lächeln.

Der Fremde sah ihn an und lächelte ebenfalls unter dem dunklen, langen Schnurrbart. Aber in seinen Augen war etwas, wovor Jussuf Angst bekam: etwas Stählernes, Unzähmbares, wogegen es gar keinen Widerspruch gab.

„Umkehren?“ frug, ebenfalls auf arabisch, der Forschungsreisende verwundert und brannte sich, die Zügel mit der Linken lüftend, eine Cigarette an. „Du weißt doch, Jussuf: ich muß auf dem nächsten Weg nach Tetuan!“

„Aber wie sollen wir an dem Stier vorbei?“

„So!“

Der Fremde gab seiner Berberstute die Sporen und drängte sie, im Schritt, um den Bullen nicht zu erschrecken, nach vorn. Hinter sich hörte er die Rufe seiner Begleiter.

„Gehe zurück, Herr!“ schrie der Maure. „Gehe zurück! Du wirst umkommen!“

„Da müßte ich schon lange beim Teufel sein!“ sagte der Reisende trocken und klemmte die Cigarette zwischen die Zähne. „Sieh doch, das Vieh ist ja viel zu verblüfft, um etwas zu unternehmen!“

In der That – der Stier stand unschlüssig da. Dicht vor dem Fuß des Vorbeireitenden pendelte sein mächtiges, horngekröntes Haupt brüllend hin und her, der Fuß scharrte und in den Augen leuchtete immer tückischer der böse Glanz.

Und plötzlich schien es, als werfe eine Gewalt von außen diese ganze schwere Masse mit einem Ruck nach vorn. In der Eingebung des Augenblicks hatte sich der Bulle zum Angriff entschlossen. Viel rascher als die ungeschlachte Gestalt ahnen ließ, schoß er, mit dem Kopfe fast den Boden streifend, auf den Feind los und hob, von unten her ausholend, Roß und Reiter mit aller Kraft seiner zottigen Wamme auf die Hörner.

Roß und Reiter überschlugen sich in dem furchtbaren und unvermuteten Anprall. Der Fremde hatte eben noch, als der Zusammenstoß erfolgte, sein Bein über den Sattel zurückgeschwungen, bereit, sich an der andern Seite niederfallen zu lassen. Aber es war zu spät. Das Pferd, das einen Augenblick vollständig frei auf dem Nacken des Stieres schwebte, glitt gleichzeitig von den Hörnern herab, überschlug sich und begrub seinen lang hinstürzenden Herrn unter seiner Last.

Nur eine Sekunde lag es über seiner Brust, dann sprang es, wie von einer Feder geschnellt, mit allen vier Beinen in die Höhe und blieb mit gespitzten Ohren, und am ganzen Leibe zitternd, sonst aber reglos stehen. Aus einer klaffenden Wunde im rechten Schulterblatt strömte das Blut und mit ihm das Leben. Als das edle Geschöpf zum zweitenmal umfiel, war es tot.

Der Stier hatte sich das mißtrauisch angesehen. Hörner, Stirne und Wamme dampften ihm in der kühlen Abendluft und bei seinem stoßweisen Gebrüll rauchte der heiße Atem vor den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0646.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2022)