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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Nüstern. Nun war der Feind tot – das vierbeinige, weiße Wesen da, das sich ihm sicherlich in böser Absicht genähert hatte! Um den Menschen, der darauf gesessen und nun reglos zwischen den Steinen lag, kümmerte sich der Bulle nicht. Für ihn war das Abenteuer erledigt. Wie von einer plötzlichen Angst ergriffen, setzte er sich in Trab, den Hang abwärts. Das Gebüsch krachte unter seinem schweren Trott, in den fleischigen Agavenstauden tauchte noch einmal der schwarze, hornüberwölbte Schädel empor, ein langgezogenes Abschiedsgebrüll, dann wurde es still.

*  *  *

Alles still bis auf das Wehen des Bergwindes und das leise Rauschen des Gestrüpps. Auf den klassisch schönen, düstergeschnittenen Gesichtern der Mauren und Berber lag sprachloser Schrecken und ihre großen sanften Augen spähten angstvoll nach der Stelle, wo der Fremde lag. War der jetzt tot, so ging der ganze Lohn für den Ritt von Fez bis zur Küste mit Ausnahme des Vorschusses verloren.

Aber da bewegte sich der Verunglückte schon. Jussuf kniete neben ihm nieder und stützte ihn.

„Hast du Schmerzen, Herr?“

Es schien, als ob der andere nicht antworten könne. Er biß die Zähne zusammen und lag still.

„Verflucht!“ sagte er dann plötzlich, sich aufrichtend. „Ich hatte eben solch ein Stechen in der Herzgegend. Der Gaul ist mir gerade darauf gefallen. Ein Stechen, das mir ganz den Atem benommen hat. Ich konnt’ gar nicht sprechen!“

Jussuf knöpfte ihn auf und entblößte die linke Brustseite. Aber da war nichts zu sehen.

„Um so besser!“ Der Forscher hatte seine gewöhnliche Stimme wiedergewonnen und begann, der Reihe nach jedes Glied zu befühlen und zu bewegen. „Gebrochen ist nichts! Bloß dies verwünschte Stechen. Sieh’ nach, Jussuf, ob du nirgends Blut findest!“

„Nein, Herr! du bist nicht verwundet. Kannst du aufstehen?“

„Ja, soll ich hier übernachten?“ Er hob sich, auf Jussufs Arm gestützt, elastisch empor. Einen Augenblick verfärbte sich, als er stand, sein Gesicht und er preßte die Hand an die Herzgegend. Aber das ging rasch vorüber.

„Wieviel kostet so ein Pferd?“ frug er.

„Zweihundert maurische Dollars, Herr!“

„Hundert zahle ich! Nicht mehr!“

„Zweihundert, Herr!“

„Hundert! das ist ganz genug! So ein Stier ist doch ein blitzdummes Vieh. Was hat er nun davon?“

Die Berber waren abgestiegen, um dem toten Gaul Sattel und Zaumzeug abzunehmen. Der Maure berührte den Arm seines Gebieters.

„Vorwärts, Herr!“

„Zu Fuß? Wohin denn?“

„Wir sind dicht bei der Karawanserai El-Fondak.“ Der Diener deutete auf ein graues, niedriges Mauerviereck, das düster wie ein Bergkastell auf einem Vorsprung des wüsten, rings von kahlen Gebirgen umrahmten, von grauen Abendwolken überflogenen Höhenkessels lag. „Dort müssen wir jetzt die Nacht bleiben!“

„Die Nacht? Ich will nach Tetuanl“

Der Maure schaute seinen Herrn an. Er bekam immermehr Angst vor dieser unheimlichen Zähigkeit des Wollens, die jetzt auch in dem durch das Abenteuer blaß gewordenen Gesicht des Weltwanderers deutlich hervortrat. Der sah matt und erschöpft aus, wenn nicht ein abenteuerliches Lächeln zuweilen erhellend über sein Antlitz hinglitt, aber doch wie ein Mann, der unter keinen Umständen umkehrt.

„Wie willst du denn ohne Pferd nach Tetuan kommen, Herr?“ frug der Diener halblaut, in dem gedämpften Ton, in dem man zu einem Kranken spricht.

„Sehr einfach! Einer der Berber ist ja gut beritten! Er giebt mir seinen Gaul und bleibt in dem Schweinestall da zurück.“ Dabei wies er auf die Karawanserai hinauf, an der eben eine Kamelkarawane langsam den geschlängelten Weg zur Höhe des Bergpasses vorbeizog.

„Es wird aber zu spät, Herr!“

„Die Karawane dort geht doch auch nach Tetuanl“

„Sie muß aber die Nacht draußen bleiben. Es sind noch vier Stunden mindestens. Der Weg ist sehr schlecht. Im Dunklen finden wir ihn nicht und …“

„Still!“ sagte der Reisende gelassen und watete, auf seinen Stock gestützt, durch den Schlamm zu der Karawanserai empor.


2.

Muley Hassan, der weißbärtige Marokkaner, der dort oben an der Spitze seiner Karawane ritt, schüttelte unwillig das braune, vom weißen Turban gekrönte Haupt, indem er auf drei am Wege sitzende Damen herniederblickte. Die barbeinig neben seinem Pferde trabenden Frauen ließen neugierig über dem, Mund und Nase verhüllenden, Schleier die schwarzen Augen funkeln, und über die Affenfratzen der mit langen Stecken die Saumtiere und Esel antreibenden Negersklaven lief ein verstörtes Grinsen.

Drei Europäerinnen mit unverschleiertem Angesicht, dessen Züge jeder Mann nach Belieben betrachten konnte – jawohl, in Tanger drüben am Meer war man solche Schamlosigkeit gewohnt! Da ritten die Damen der Gesandtschaften frank und frei, von den Kawassen begleitet, bei lichtem Tage über den Markt oder ließen sich gar nach Sonnenuntergang von maurischen Trägern in einer Sänfte aus dem Hause schleppen, um – es klang unglaublich, aber, bei Allah! viele Rechtgläubige hatten es gesehen! – um in einer fremden Wohnung mit fremden Männern die Nacht durch zu plaudern, zu speisen und zu tanzen! Aber Tanger war weit! Eine kleine Tagereise von dem einsamen El–Fondak entfernt, unter dessen Mauern die Damen ihr Zelt aufgeschlagen hatten.

Was hatten Europäerinnen hier zu schaffen? Noch dazu ohne männlichen Schutz, nur in Begleitung eines braunen Hotelkuriers aus Tanger und zweier alten, höchst zweifelhaft ausschauenden Regierungssoldaten?

Muley Hassan warf – seitlings, um seiner Würde nichts zu vergeben – im Vorbeireiten einen Blick auf die dicht am Wege sitzende Lady und sah mit Schrecken, daß die ihn unverwandt anstarrte – eine Frau einen fremden Mann! Bei Allah, es gab viel Sünden auf der Welt! Dann senkte sie ihren hübschen Blondkopf über eine Art Mappe, die sie mit der Linken auf den Knieen festhielt, schrieb oder kritzelte irgend etwas darin und richtete wieder forschend ihren ruhigen Blick auf die malerische, ganz in weiß gehüllte Gestalt des greisen Wüstenpatriarchen, die sich mit dem gebauschten Turban und der lang darüber ragenden Flinte wie ein schneeiger Schattenriß von dem bleigrauen, regendrohenden Himmel abhob.

Das verdroß den Alten. Er rückte sich im Sattel zurecht, schob die in gelben Pantoffeln steckenden Füße tief in die schuhähnlichen Steigbügel und setzte mit einem Stich des an die bloße Ferse angeschnallten Sporns sein Roß in Galopp. Die Karawane folgte. Eilfertig wanderten mit schaukelndem Halse die Kamele, wie ein Schwarm grauer Mäuse huschten und trippelten die Märtyrer des Morgenlands, die schwerbepackten Eselein, hinter den lehmfarbenen Ungetümen her, die Maultiere spitzten die Ohren und rannten mit, neben ihnen trabten die verschleierten Araberinnen, ihre Kinder auf dem Rücken, die buntgestickten Pantöffelchen in der Hand, hochgeschürzt, mit ihren braunen, sehnigen Beinen durch den Kot, und hinten scheuchten die blauschwarzen keuchenden Negersklaven alle Nachzügler der Karawane vor sich her, dem Höhenpaß entgegen, von dem der Pfad nach dem Thal des Habesch und nach Tetuan führte.

*  *  *

„Schade!“ sagte Klara lachend. „Ich hab’ ihn nur zur Hälfte!“ Dabei wies sie Hilda, dem nußäugigen Nesthäkchen der Gesellschaft, ihr Skizzenbuch. Auf dem Blatte war das ehrwürdige Haupt des Scheichs und der Kopf seines Vollbluthengstes mit sicheren Strichen umrissen, alles andere aber lag noch als eine weiße unberührte Papierfläche da.

„Schade,“ meinte auch die Kleine beklommen und schaute der davonpilgernden Karawane nach. Im Grund ihres Herzens war sie froh, daß sich die Marokkaner so rasch verzogen hatten. Sie fürchtete sich vor den wilden Gestalten im Turban und Burnus, sie fürchtete sich vor dem braunen, weltmännisch lächelnden Hotelkurier, sie fürchtete sich vor ihrem Maultier, das heute beinahe einmal scheu geworden wäre, sie fürchtete sich vor ganz Afrika.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0647.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2021)