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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

den uns spöttisch musternden Mitschülern ihre Ermahnungspredigt wieder auf: „Und vor den Bauernfängern nehmt euch in acht … trinkt nicht erhitzt, verderbt euch nicht den Magen …“ Dann verstummte sie plötzlich und horchte auf. Und schnell sich nach dem Schalter zurückwendend, wo eben von einer Dame ein Billet nach Berlin gefordert worden war, schoß sie auf diese los: „Sie fahren nach Berlin?“ jauchzte sie, „ach, da hätte ich eine große Bitte! Hier meine beiden Knaben fahren auch nach Berlin, zur Großmama – möchten Sie sich nicht derselben annehmen? Sie sind noch nie allein gereist!“

Jetzt war nur noch durch schnelles Handeln der letzte Rest der erwarteten Reiseromantik zu retten. Gerade fuhr der Zug ein. Der Augenblick war günstig. „Mama, der Zug ist da,“ rief ich ängstlich und faßte sie unterm Arm, während ich mit der andern Hand unbarmherzigen Griffes Tobys fleischlosen Oberarm packte und beide so auf dem Bahnsteig vorwärts schob. Aber meine Mutter ließ ihrerseits auch die nach Berlin reisende Dame nicht locker. Rückwärts gewandt, sprach sie weiter in sie hinein, so daß ich nur Bruchstücke der Unterhaltung auffangen konnte: – „können verunglücken – bösen Menschen in die Hände fallen – nicht hinfinden“. – „Können ganz ruhig sein, werde schon aufpassen – sie nicht aus den Augen lassen, bis ich sie dem Onkel übergebe.“

Ich knirschte mit den Zähnen. O freie Burschenherrlichkeit: ich sollte auf einen kleinen Jungen, und eine fremde Dame sollte auf mich aufpassen. Das war meine Reise „ganz allein nach Berlin “!

Noch einen Kuß tauschte ich mit der Mutter, während ich ihr mit von Thränen erstickter Stimme zuraunte: „Nun hast du mir die ganze Reise verdorben!“ Dann schubste ich Toby und den Koffer in ein leeres Rauchcoupé und schlug die Thür hinter uns zu, die aber im selben Augenblick wieder aufgerissen wurde. Die Dame, deren Aufsicht ich anvertraut war, stieg uns nach.

Toby war ihr bei dem Verstauen ihres zahlreichen Gepäcks behilflich; sentimentales altjüngferliches Reisegepäck: Plaidrollen, auf denen „Glückliche Reise“ gestickt war, ein Schlummerkissen, mit der Widmung „Nur ein Viertelstündchen“, eine Schirmtasche, mit „Gut Wetter“ und ein Kofferbezug, der ebenfalls mit einem wohlmeinenden Spruch verziert war. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus, las in den Augen meiner Mutter aufdämmerndes Verständnis und Reue, die Lokomotive zog an, und ich sank in eine Ecke, steckte die Hände in die Taschen, schob den Hut in die Stirn und gab mir ein so unleidliches Ansehen, wie es Jungen in meinem damaligen Alter an und für sich schon nicht unnatürlich ist. Wenn ich nur Cigarren gehabt hätte, ich hätte ihr eine nach der anderen bei geschlossenen Fenstern unter der Nase vorgepafft, unbekümmert darum, was aus mir danach wurde. Gewöhnlich wurde mir schlecht davon.

Ja, hätte sie ehrlich alt ausgesehen, aber sie hatte sich so als Backfisch zurecht gemacht, und davon ließ sich der gute Toby bestechen. „Sei doch nicht so eklig,“ raunte er mir zu, „sie ist wirklich ganz nett und weiß so schön auf allen Bahnhöfen Bescheid. Und laß dir nur ja nicht einfallen, in Zoppot in ein anderes Coupé zu steigen; sie sagt, dann müsse sie nachsteigen; sie sähe wohl, daß dir ihre Aufsicht nicht gefiele, aber ihr Wort müsse sie halten.“

Im selben Augenblick hielten wir in Zoppot und das Erscheinen von Konrad Telges Gesicht am Fenster hinderte mich an der Flucht. „Na, Gustav! Ist dir noch nichts passiert? Steck’ nur nicht deinen Kopf zum Fenster heraus, ein Tunnel könnte kommen und ihn dir wegnehmen,“ höhnte er. Da wurde er rechtzeitig beiseite gedrängt. Sechs Matrosen mit sechs brennenden Cigarren platzten lachend und ulkend in unser Coupé. Der Dame wurde angst, sie sprang auf und setzte sich zwischen Toby und mich.

„Haben Sie keine Bange nicht, wir duhn Ihnen nischt!“ sagte der eine.

„Wenn Ihnen das Rauchen unangenehm ist, müssen Sie nicht ins Rauchcoupé steigen,“ sagte der zweite.

„Ja, so ’ne scheene junge Dame, die muß immer Damencoupé fahren!“ sagte der dritte.

Sie sah mich an, flehend, Schutz heischend, und ich war so unritterlich, keine Notiz davon zu nehmen.

Die Matrosen raunten sich unverständliche Worte zu, sie lächelten, grinsten und stießen sich mit den Ellbogen in die Seite; die Dame sah wie verraten und verkauft drein. Toby war ganz hingenommen, die Unterhaltung zu erlauschen, und starrte von einem zum anderen, wie so ein selbstvergessener amüsierter Junge starrt: den Rücken krumm, die Hände in den Hosentaschen, den Mund offen, die einwärts gedrehten Füße baumelnd, dann und wann ein blitzähnliches Aufleuchten auf dem breiten Gesicht.

Als sich eine Station mit längerem Aufenthalt näherte, dachte ich: Nun wird sie aussteigen; auf die dahinzielende Bemerkung eines Matrosen sagte sie aber: „Ja, wenn die beiden Knaben mir folgen; sonst bin ich gezwungen, in diesem Qualm auszuhalten.“ Aber nun streikte auch Toby. „Ich bleibe hier,“ erklärte er bestimmt. Er hatte doch gar zu interessante Worte aufgefangen: Rio, Calcutta, Honolulu, Singapore! Es dauerte nicht lange, so waren wir beide im besten Zuge, die Leute über ihre Reisen auszufragen und uns erzählen zu lassen. Vergessen war die Dame! Ich dachte nicht mehr an Umsteigen. Als ich mit den Leuten in einer Station Bier getrunken, stieg ich ruhig ins selbe Coupé, und in Stettin gaben mir die Matrosen mit Händeschütteln und dem Wunsche „Viel Vergnügen in Berlin“ meine ganze Manneswürde zurück. Mochte die Dame auf mich aufpassen, es war mir so gleichgültig, als wenn mich eine Katze ansähe.

Ein paar Stationen vor Berlin erklärte sie aber plötzlich, daß sie auf der letzten Station einen Onkel Meier wohnen hätte, dem sie etwas zu übergeben hätte, sie habe es vorhin ganz vergessen. Da müsse sie nun aussteigen und könne deshalb ihr Versprechen nicht vollständig halten. Aber sollten wir unseren Onkel auf dem Bahnhof nicht treffen, so möchten wir nur warten; sie würde bestimmt den nächsten Zug benutzen und uns vom Bahnhof dann bis ans Haus der Großmutter bringen.

Ich erwiderte ihr, sie möge sich gar keine Sorge machen; es wäre „selbstverständlich“, daß wir uns nicht ohne jede Führung in den Berliner Straßenwirbel stürzen würden; sie könne ruhig aussteigen. Die letzte Station kam in Sicht, ich öffnete das Fenster, um unserer Duenna beim Aussteigen behilflich zu sein.

Auf dem Perron stand unter anderen Passagieren ein Gendarm, stramm wie eine Säule, sauber vom Helm bis zur Stiefelspitze. Toby schüttelte unserer Dame die Hand, ich riß meinen Hut mit übertriebener Höflichkeit vom Kopfe, sie bestellte noch Grüße an meine Mutter; die schön bestickten Handgepäckstücke wurden ihr nachgereicht, und ich schlug seelenvergnügt die Thür zu. Willkommen, freie Burschenherrlichkeit! Jetzt werden wir in Berlin einziehen wie ein paar Studenten! Juchhe!

Der Gendarm war unterdessen den Zug abgelaufen, ohne einen Platz zu finden; da stieß er auf unsere Dame, sie stutzte, sie eilte auf ihn zu, sie redete auf ihn ein. Wollte diese hilfsbereite Seele dem Gendarm zu einem Platz verhelfen, war es ein Bekannter von ihr, vielleicht Onkel Meier selbst? Sie zeigte auf unser Coupé, der Gendarm nickte und stürzte auf uns zu. Mit Blitzesschnelle drängte sich mir der Zusammenhang auf: wir waren abermals einer Schutzmacht übergeben! Diesmal einer bewaffneten! Entsetzlich! Toby, der Koffer und ich flogen hinaus, aber ebenso schnell waren wir drei von des Gendarmen geschäftskundiger Hand zurückexpediert, er sprang nach und schlug die Thür zu.

„Sakermentsche Buben! ’s hat gepfiffen und kein Platz ist im ganzen Zuge mehr! Aber ich weiß schon Bescheid, die Bub’n wollen wohl erst ’n bißel allein nach Berlin ’nein, sich nicht gleich vom Onkel finden lassen. Daraus wird nichts! Hab’s dem Fräulein Böhm versprochen und laß nicht locker, bis der Onkel zur Stelle ist!“

Aus dem Nebencoupé starrten Augen voll Neugier auf die beiden Knaben, die wie Ausreißer in das Coupé zurückgeworfen worden waren, und nun wie Inkulpaten dasaßen. Doch die Gaffer hatten nicht viel Zeit. Berlin näherte sich mit größter Beschleunigung. Man griff nach dem Handgepäck. Da dehnte sich schon das Häusermeer vor den Fenstern. Der Zug hielt. Höflich ließ der Gendarm die übrigen Insassen unseres Coupés aussteigen, dann folgte er, setzte eines seiner wohlbestiefelten Beine auf das Trittbrett und befahl uns, oben zu bleiben, weil

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0703.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)