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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sie konnte das Gesicht nicht vergessen, mit welchem Alix an jenem Schreckensmorgen vor sie hingetreten war und ihr gesagt hatte: „Es ist ein Unglück geschehen; ein Duell hat stattgefunden, und ein Schwerverwundeter wird hierher nach dem Schloß gebracht, auf meinen speziellen Wunsch. Ich bin rasch vorausgeritten, sowie wir aus dem Walde heraus waren, um es Ihnen zu sagen. Wir werden alle Vorkehrungen treffen, Pflegerinnen aus Greifswald kommen lassen, und, nicht wahr, liebe Frau von Sperber“ – hier hatte Alix plötzlich beide Arme um den Hals der Dame geschlungen – „Sie werden uns mit Ihrer Erfahrung, Ihrem Rat zur Seite stehen – um meinetwillen?“

Da hatte die Majorin das junge Mädchen zum erstenmal mit mütterlicher Innigkeit ans Herz gedrückt und mit gerührter Stimme alles zu thun versprochen, was in ihren Kräften stand, denn in jenem Augenblick hatte sie Alix’ Geheimnis erraten; sie wußte, den Mann, welchen sie jetzt unter das Dach ihres Hauses führte, diesen Mann mußte Alexandra von Hofmann lieben!

Sie waren einander um vieles näher gekommen in diesen beiden Tagen, die zwei Frauen. Frau von Sperber, die lange ihren leidenden Mann gepflegt, wußte im Krankenzimmer gut Bescheid und ordnete alles Erforderliche mit Ruhe und Umsicht an. Sie war im Zimmer, als Doktor Petri die Kugel herauszog, sie machte, ehe die barmherzigen Schwestern aus Greifswald eintrafen, den Assistenten des Arztes, that alle Handreichungen, scheute vor nichts zurück und erntete Doktor Petris höchste Anerkennung. Sie brachte Alix von dem Verlauf der wichtigen Untersuchung Bescheid, duldete nicht, daß das junge Mädchen die Krankenstube in diesen entscheidenden Stunden betrat, und beruhigte den alten Vater Hagedorn, der zugleich mit den Pflegerinnen, auf Alix’ Benachrichtigung, von Greifswald herübergekommen war.

Der alte Herr hatte völlig den Kopf verloren. Die Schreckensnachricht hatte ihn ganz unvorbereitet getroffen und ihn total daniedergeworfen. Er wollte beständig im Krankenzimmer bei seinem „Jungchen“ sein, gebärdete sich daselbst aber ganz fassungslos, begann zu weinen, behauptete, den Anblick nicht ertragen zu können, und lief davon, um nach zehn Minuten mit geröteten Augen auf den Fußspitzen wieder heranzuschleichen, Besserung zu geloben und, kaum wieder zu dem Kranken gelassen, dieselbe Scene zu wiederholen. Doktor Petri sowie der aus Greifswald herbeitelegraphierte Arzt hatten Frau von Sperber bereits dringend ersucht, die Anwesenheit des alten Herrn im Krankenzimmer zu verhindern – er würde seinen Sohn, wenn er zur Besinnung käme, unnütz aufregen.

Aber Raimund Hagedorn kam noch immer nicht zur Besinnung. Er hatte hohes Wundfieber, erkannte niemand von seiner Umgebung und phantasierte ohne Aufhören. Meistens war es die Musik, mit der er sich beschäftigte. Bald komponierte er, erbat stürmisch Notenpapier und Stift, um alle musikalischen Ideen, die ihn bedrängten, niederzuschreiben – bald wieder glaubte er sich am Dirigentenpult und studierte dem Orchester eine seiner Kompositionen ein … Dann hatte er seinen Aerger mit dem Orchester, das seine Intentionen nicht verstand, seine musikalischen Ideen nicht so herausbrachte, wie es wünschenswert, nein, notwendig erschien.

Hoch sprang der fieberglühende Mann im Bett empor, daß der Eisbeutel herumflog und der Verband sich lockerte. Die Pflegerinnen konnten ihn nicht halten, sie mußten sich männliche Hilfe herbeiholen. Der alte Herr Hagedorn war unbrauchbar und Frau von Sperber ließ James rufen, um den Delirierenden nötigenfalls im Bett festzuhalten. – Am Morgen des dritten Tages ging Alix mit dem alten Herrn Hagedorn im Park auf und nieder. Die Nacht war sehr unruhig gewesen, die Schlafmittel hatten sich als wirkungslos erwiesen. Die Pflegerinnen konstatierten ein neues Steigen der Temperatur, und Doktor Petri, der ganz früh dagewesen war, hatte sich sehr besorgt geäußert. Er habe den Fall wohl gleich für ernst, aber nicht im entferntesten für so schwer angesehen; wenn das mit dem Fieber weiter fortginge, so …

Er hatte nicht zu Ende gesprochen, aber man denkt sich alles Weitere, wenn die Aerzte sich derartig äußern.

Der alte Herr war selbstverständlich nicht dabei gewesen, als Doktor Petri diesen Ausspruch that, aber die besorgten Mienen und ausweichenden Antworten der Majorin, sowie der Pflegerinnen ließen ihn leicht erraten, daß es nicht gut stand.

„Daß Doktor Petri dies entsetzliche Fieber gar nicht zum Stillstand oder wenigstens zum Sinken bringen kann,“ sagte Hagedorn senior endlich nach langem Schweigen und richtete seine guten Augen mit einem hilflosen Ausdruck auf das junge Mädchen.

„Lieber Onkel Eberhard, wir müssen es abwarten. Doktor Petri kommt in einigen Stunden wieder. Er giebt sich die denkbarste Mühe!“

„Meinen Sie wirklich? Das heißt – – nein, – das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, – wie soll ich dazu kommen, einen Zweifel aussprechen zu wollen, wo ich nichts als Sorgfalt und Güte sehe!! Ach, Kind, Sie sind so gut und nachsichtig, zwanzigmal am Tag frage ich Sie dasselbe, ich weiß es recht gut, und nie sind Sie ungeduldig, immer finden Sie noch ein beruhigendes Wort, einen Trost für mich! Aber Sie müssen auch bedenken: er ist mein Einziger! Wenn ich mir vorstelle, er sollte vor mir hingehen, und ich alter Mann bliebe allein und verlassen übrig –“

„Onkel Eberhard, bitte bitte!“

Ihre zitternde Hand legt sich auf die seine, aber der alte Mann ist zu erregt, er bricht ratlos in Thränen aus.

„Sie sind jung, Kind, und stehen an der Schwelle des Lebens, Sie können das nicht so verstehen!“ stammelt er fassungslos. „Ich aber – mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“

Jawohl, sie ist jung, steht an der Schwelle des Lebens, und dies Leben hat ihr vieles geschenkt, was Tausenden versagt blieb: Schönheit, Reichtum, Gesundheit und Intelligenz! Aber doch finden seine Worte ein Echo in ihrer Seele, und sie spricht dieselben im stillen nach: „Mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“

Sie meint das in anderem Sinn als der alte Mann, der wohl denkt, er werde daran sterben. Alix ist nicht exaltiert, nicht überschwenglich genug angelegt, um überzeugt zu sein, sein Tod werde den ihrigen nach sich ziehen. Es stirbt sich nicht so leicht, wenn man kaum zwanzig Jahr alt und gesund an Leib und Seele ist! Sie denkt nur für sich: mit dem Besten und Schönsten in mir ist es vorbei, wenn er mir stirbt, denn ich weiß: das Schönste in meinem ganzen Leben bisher war und wird ferner sein diese meine erste, starke und heiße junge Liebe!

Das muß sie in sich verschließen, während sie neben dem alten Mann steht und ihn weinen sieht. Zum hundertstenmal wohl in diesen schweren Tagen ringt sich das bange Stoßgebet aus ihrer Seele los: „Schone, mein Gott, dies Leben!“ und unmittelbar hinterher schleicht der Zweifel und fragt: „Wird es geschehen? Wird es?“ – – –

Aus einer Seitenallee kommt James und bringt die Postsachen. Alix hat schnell aus den ihr überreichten Briefen einen mit dem Blick herausgesondert, dessen Handschrift sie wie ihre eigene kennt, einen Brief, der den Poststempel einer kleinen Ortschaft in Südtirol trägt. Maria hat in letzter Zeit nur Postkarten an Alix geschrieben, da ihre bevorstehende Reise ihr wenig freie Zeit gönnte. Nun endlich dieser Brief!

„Gehen Sie, Herzenskind, und lesen Sie in Ruhe!“ sagt der alte Herr neben Alix. „Ich werde Sie gewiß nicht stören!“

„Sie bleiben hier in der Nähe, ja, Onkel Eberhard?“ fragt das junge Mädchen liebevoll. „Sie werden nicht ins Schloß gehen und versuchen, ins Krankenzimmer zu kommen, sondern hier draußen in der schönen frischen Luft bleiben und ein wenig auf und nieder gehen, bis ich mit meiner Lektüre fertig bin?“

„Ich werde gehorsam sein!“ erwidert er mit einem trüben Lächeln.

Sie nickt ihm freundlich zu und zieht sich mit ihrem Brief auf ein halbrundes Bänkchen zurück, das von einer schönen Esche mit tiefhängenden Zweigen überschattet wird.

„Dies ist meine erste freie Stunde, geliebte Alix. Die neue kleine Sommerresidenz ist eingerichtet, wegen Bedienung und Essen alles Nötige verabredet, mein Mann hat auf mein Zureden mit seinem Kollegen Herter, der zum Glück auch hierher gekommen ist, einen Spaziergang unternommen, die Kinder spielen draußen mit zwei niedlichen jungen Kätzchen, die sie hier

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