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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

vorgefunden, und ich sitze in der hübschen, rebenübersponnenen Laube, die zu unserer Wohnung gehört, und führe das aus, wozu mein Herz mich schon lange, lange trieb: ich rede mit Dir, mein Liebling!

Daß sich Werner beinahe ganz und Elschen noch lange nicht vollständig erholt hat, sagten Dir meine Karten. Die Aerzte sind ja zufrieden und behaupten, man dürfe nach einer lebensgefährlichen Krankheit nicht mehr verlangen; ich aber meine, ein Kind, noch dazu ein bis dahin immer so gesundes, kräftiges Kind, wie unser Töchterchen es war, das müßte sich weit rascher erholen. Werner ist rührend gut und rücksichtsvoll gegen die kleine Schwester; er zankt nie mehr mit ihr, giebt fast immer nach, spielt geduldig Puppen mit ihr und benimmt sich wie ein kleiner Ritter ihr gegenüber. Von Dir reden beide Kinder täglich und machen damit die Tradition, daß alle Kinder treulose, leicht vergeßliche Geschöpfe sind, zu schanden. Du hättest ihnen gar nicht so schöne Sachen schicken dürfen, um sie an Dich zu erinnern, das geschieht ohnehin! Sie haben sich aber beide unendlich gefreut und werden Dir nächstens schriftlich danken.

Mein Mann ist tüchtig überarbeitet, und die Ferienruhe wird ihm sicher gut thun. Ich selbst habe die Bücher bestimmt, die in die Sommerfrische mitgenommen wurden, lauter belletristische Sachen, nur ein paar populärwissenschaftliche Werke darunter. Er soll seinen Geist ausspannen. Daß sein Kollege Herter hier ist, freut mich von Herzen. Mein Mann hat ihn sehr gern, Herter ist viel jünger als er, sehr heiter und humoristisch angelegt, gut Freund mit den Kindern und ein leidenschaftlicher Tourist – da muß mein Mann mit, er mag wollen oder nicht, und das ist ihm sehr dienlich!

Ich selbst bin gesund; meine Stimmung ist die beste, wenn es meinen Lieben gut geht. Ich wollte, Du könntest unser reizendes Häuschen sehen, im gefälligsten Villenstil erbaut, mit der Rückseite gegen die Berge gekehrt, die sehr imposant und schön sind, von Bäumen umstanden, von grünem Gelände umgeben, und der Garten mit der Laube so gut gehalten! Die Wirtin ist eine sehr behäbige, freundliche Frau, die auch ihre kleine Landwirtschaft hat und uns die köstlichste Milch, die frischesten Eier liefert. Das Dorf ist langhingestreckt, sehr groß und entschieden wohlhabend, die Häuser sind alle geräumig, nicht ohne Geschmack und Zierlichkeit gebaut, die Kirche könnte jeder Mittelstadt zum Schmuck gereichen, sie enthält wunderschöne Schnitzereien und sogar einige künstlerisch wertvolle Gemälde.

Da hast Du den Rahmen, der uns umschließt, Liebste – da hast Du das Bild selbst, das Du so gut kennst, zu dem Du so ganz gehörst, und dem Du doch fehlst … ach, mir, mir vor allen andern!

Ich kann nicht ohne Sorge an Dich denken, mein Kind – meine liebste Freundin! Du bist umgeben von Menschen, die ich samt und sonders nicht kenne, und Du glaubst es nicht, wie mich das oft nachdenklich und traurig stimmt. Ich sähe so gern in Deine Umgebung hinein, ich tauschte so gern mein Urteil mit dem Deinen aus, wüßte so gern, wie alle, die meine Alix mir so lebhaft schildert, sich zu ihr stellen, mit welchen Augen sie meine frühere Pflegetochter ansehen.

Dein letzter ausführlicher Brief – denn die Karten zählen nicht mit, das sage auch ich! – hat mir viel zu denken gegeben. Es hat mir vieles darin sehr gefallen, und ich habe das meiste aus vollem Herzen gebilligt. Immer bist Du, und das söhnt mich mit manchem, was ich nicht gutheißen kann, wieder aus, ganz Du selbst, unbeeinflußt durch andere. – Wenn ich warnen, eingreifen wollte, kam ich überdies oft schon zu spät, und Du tratest mir hochgemutet mit dem Spruch entgegen: ‚Ich hab’s gewagt und will des End’s erwarten!‘ Im Geist sehe ich das stolze Leuchten Deiner Augen dazu und spreche, wie ich so oft früher sprach: ‚Möge sich alles zum besten wenden!‘

Auch jetzt käme Rat und Warnung wohl zu spät, wäre selbst dann zu spät gekommen, wenn ich Deinen lieben Brief hätte umgehend beantworten können! Mein Herz, Du hast Schicksal spielen wollen, Du willst helfen, und ich müßte Dich nicht so genau kennen, wenn ich nicht wüßte: Deine Absicht ist die beste! Aber ach, das Leben führt unsere guten Absichten nicht immer so hinaus, wie wir es uns denken! Wir legen die Lose sorgsam und nach bestem Ermessen … aber eine gewaltige Hand kommt und wirft sie durcheinander und rüttelt alles um und um, daß wir uns, staunend, schmerzlich fragen: ist dies dasselbe noch, was Du gewollt? Hast Du das beabsichtigt, was jetzt entstanden ist?

Kind, kein Mensch, vor allem kein Mann hat es gern, wenn jemand anders, wenn zumal eine Frau für ihn Schicksal spielen will. Er begehrt, wenn er ein rechter Mann ist, sein Lebensschiff selbst zu lenken – – ja, er wird der Hand, die unbefugt zum Steuer greift, zürnen, und wenn sie noch so geschickt sein Schiff über Untiefen und Klippen hinwegbringt! – Du wirst sagen: er darf es ja nicht erfahren! Alix, ich weiß es, Deine Erlebnisse sind nicht die meinigen, und wir beide sehen, trotz aller Freundschaft und Liebe zu einander, die Welt und die Menschen doch vielfach mit andern Augen an, aber ich bitte Dich, traue hierin meiner Erfahrung, meinen reiferen Jahren: einmal kommt immer die Zeit, da der Betreffende erfährt, was geschehen ist, indessen – und hier liegt das Bedenklichste – selten oder nie erfährt er es so, wie es wirklich gemeint war, wie es sich in Wahrheit zugetragen hat. Es schieben sich Menschen, neue Verhältnisse dazwischen, es vergeht die Zeit, andere Gesichtspunkte greifen Platz, die ganze Begebenheit bekommt ein verändertes Aussehen!

Was ich Dir rate, zu thun? Was ich an Deiner Stelle thäte?! Du weißt es wohl selbst schon, willst Du es aber dennoch schwarz auf weiß lesen, so sei es drum: fasse einen raschen, einen mutigen Entschluß, wie schwer er Dir immer fallen mag – tritt vor ihn hin, und sag’ ihm: das und das hab’ ich für Dich gethan, in dem und dem Sinn gethan – nun entscheide Du, nimm an oder verwirf! Und wie er entscheidet, so, mein geliebtes Kind, fallen die Würfel über Dein Leben, das fühle, das weiß ich! Was ich empfinde, indem ich Dir das schreibe, läßt sich mit Worten nicht sagen. Um meine eigene Tochter, wenn sie schon erwachsen wäre, könnt’ ich nicht mehr zittern und bangen, ich könnte sie nicht inniger lieben als Dich, nicht stolzer auf sie sein, als ich es auf Dich bin! Und gerade um dieses meines Stolzes willen, Liebling, bekenne, was Du thatest, es wird Dich nicht gereuen! Du hast mir oft gesagt, Du fühltest Dich ,geborgen‘ bei mir! Nun, Kind, in gewissem Sinn warst Du das auch, geborgen in meiner Liebe! Nun hab’ ich Dich hergeben müssen, nun schaukelt Dein Lebensschiff, dem sichern Hafen entführt, auf hoher See, und ich stehe am Strand und sehe es mit an, das Herz voller Liebe und voller Sorge!

Auch erfüllt eine Notiz, die ich heute in der Zeitung las, meine Seele mit Bangigkeit. Es heißt darin, die Justiz habe in Bezug auf den seiner Zeit so viel Aufsehen erregenden Josephsthaler Mord eine neue Spur gefunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum Ziel führen werde und die allgemeine Aufmerksamkeit wiederum auf diese bis dahin in undurchdringliches Dunkel gehüllte That lenken dürfte. Es war nur eine kurze Notiz, aber sie versetzte mich in begreifliche Aufregung. Wenn man auf die richtige Fährte gelangt und die ganze Sache von neuem aufrührt, so stehen Dir, mein Liebstes, auch in dieser Hinsicht schwere Tage bevor.

Sei tapfer, meine Alix, sei mutig und stark! Das Schicksal hat Dir nicht umsonst diesen offenen, furchtlosen Sinn, dieses unbestechliche Rechtsbewußtsein mit in die Wiege gelegt! Sei ehrlich und gerecht gegen Deine Umgebung, aber sei es auch gegen Dich selbst und vergiß nie, was Du Deinem eigenen Ich schuldig bist. Die erste Pflicht, die wir in diesem Leben haben, ist die, daß wir mit Ehren bestehen können vor uns selbst!
Treu immerdar Deine Maria!“ 


22.

Die Hand, die den Brief gehalten, sank in den Schoß, die Augen des Mädchens irrten ziellos ins Weite.

Freilich hatte sie recht, die gute und kluge Freundin: die Verhältnisse verschoben sich von einem Tag zum andern und nahmen neue Gestalt an: was gestern noch geboten schien, war heute eine Unmöglichkeit, was heute unausdenkbar war, vollzog sich morgen mit der größten Einfachheit!

Wäre alles geblieben wie es früher war, stände Raimund Hagedorn jetzt, in diesem Augenblick, frisch und lebensvoll vor Alix … impulsiv, wie sie einmal war, hätte sie wahrscheinlich den Mut gefunden, Marias Bitte zu willfahren. Denn oft schon

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0759.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2023)