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selbst im Verlag, und darum bezeichnete sie sich in der Öffentlichkeit als Buchhändlerin. Gewiß wurde die Lenormand vielfach lediglich aus Neugierde aufgesucht; die Beschäftigung mit der Wahrsagerei galt als eine Art seltsamer Unterhaltung, die einmal Mode war, aber es gab genug Leute, die sie in ernsten Dingen zu Rate zogen und sie in ihre geheimsten Angelegenheiten einweihten. Und dazu gehörte z. B. die erste Gemahlin Napoleons I, Josephine Beauharnais, bei der sie besonderes Vertrauen genoß. Schon als diese noch Madame Beauharnais war, soll die Lenormand ihr den Tod ihres ersten Gatten und ihre Wiederverheiratung mit einem Offizier vorhergesagt haben, dessen Stern sie noch zu hohen Ehren bringen werde, und ebenso ihre spätere Scheidung von Napoleon I. Auch als Kaiserin ließ Josephine noch die Wahrsagerin in ihr Palais kommen. Hier hat diese auch, wie sie selbst erzählt, eine Begegnung mit Napoleon gehabt, der sie schon vor Jahren konsultiert haben soll, als er den abenteuerlichen Plan hegte, Frankreich zu verlassen und in die Dienste des Sultans zu treten. Sie hat auch auf Veranlassung der Kaiserin Josephine im Jahre 1807 das vollständige Horoskop Napoleons I aufgestellt, das ihr bei ihrer Verhaftung im Jahre 1809 abgenommen und seitdem auf der Pariser Polizeipräfektur aufbewahrt wurde und in dem man auch eine Stelle finden will, die auf Napoleon III deutet. Wir glauben indessen kaum, daß ein Mann wie Napoleon I ihren Wahrsagungen eine ernstere Bedeutung beigelegt hat. Sehr erklärlich ist dagegen das Vertrauen, das ihr seitens der Kaiserin Josephine entgegengebracht wurde. Denn diese war Kreolin von Geburt und abergläubisch wie nur eine Kreolin es sein kann.

Ludwig XVIII hat schon als Graf von Provence am Abend vor seiner Flucht aus Paris die Lenormand aufgesucht und gab ihr auch als König häufig geheime Audienzen in den Tuilerien; sie soll ihm die Ermordung des Herzogs von Berri vorhergesagt haben.

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Erster Frost.
Nach dem Gemälde von M. Korochansky.


Die Fürsten, die im Jahre 1818 zum Aachener Kongreß versammelt waren, suchten fast alle die Sibylle auf, die sich damals ebenfalls nach Aachen begeben hatte. Friedrich Wilhelm III von Preußen soll sich, wie erzählt wird, als Bauer verkleidet und scherzend zu ihr geäußert haben, er sei „un paysan sans soucis“ („ein Landmann ohne Sorgen“), worauf sie ihm schlagfertig erwidert habe: „Das ist richtig, da Sie der Besitzer von Sanssouci sind.“ Wie die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ 1840 bei Gelegenheit des Todes Friedrich Wilhelms III berichtete, soll die Lenormand im Jahre 1815 dem Könige sein Todesjahr und dasjenige Napoleons I richtig vorhergesagt haben. Ein merkwürdiges Schauspiel fürwahr, zu sehen, wie die Männer, die selbst an der Geschichte ihrer Zeit mitarbeiteten, das Orakel der Kartenschlägerin zu Rate zogen!

Es konnte nicht ausbleiben, daß eine Wahrsagerin, die von politischen Persönlichkeiten der verschiedensten Parteien aufgesucht wurde, selbst auf das zu den Zeiten der Lenormand nicht ungefährliche politische Gebiet geriet. Es widerfuhr ihr mehreremal, daß sie sich mit den herrschenden Gewalten in Konflikt setzte. Gleich in der ersten Zeit ihrer Wirksamkeit wurde sie vom Wohlfahrtsausschuß als verdächtig verhaftet und kurze Zeit gefangen gehalten. Später hatte sie das Mißgeschick, sich den Zorn Napoleons I zuzuziehen. Eine Wahrsagerin, die seinem Ruhm als Heroldin diente, hätte sich Napoleon gefallen lassen, aber niemand, auch die Sibylle nicht, durfte es wagen, ihm zu widersprechen oder seinen Unternehmungen ungünstigen Ausgang vorherzusagen. Als sie dem ersten Konsul, der eine Expedition gegen England plante, öffentlich den Mißerfolg einer Landung an der großbritannischen Küste vorhersagte, wurde sie verhaftet und mit einem Jahre Gefängnis in einem Kloster bestraft. Noch einmal wagte sie es, den Gewaltigen herauszufordern, dessen Willen niemand trotzen durfte. Im Jahre 1809 wurde sie abermals wegen ungünstiger Prophezeiungen, die sie veröffentlicht hatte, gefangen gesetzt und später ausgewiesen. Sie rächte sich, indem sie von Brüssel aus Napoleons Untergang in einer Schrift vorhersagte, eine Prophezeiung, die ihrem historischen Scharfblick Ehre macht. Mlle. Lenormand ist stets von Gesinnung Royalistin gewesen, und diese Gesinnung machte sie zeitweise besonders populär. Als am 31. März 1814 die Verbündeten in Paris einzogen, wurden ihr von der Menge Ovationen gebracht, weil sie die Wiederherstellung der Dynastie prophezeit hatte.

Die Thatsache, daß die Großen und Mächtigen dieser Erde zu jener Zeit fast alle die Sibylle von Paris aufgesucht haben, kann uns psychologisch nicht in Erstaunen setzen. Einmal ist ja bekannt, welchen Einfluß die Mode auf alle Gesellschaftsklassen hat, und die Lenormand war eben damals Mode. Dann aber sind solche Menschen, die auf den politischen Höhen stehen, Herrscher und Staatsmänner, dem Schicksal in seinen großen Wandlungen mehr ausgesetzt, ihr Interesse, sozusagen, an der Zukunft ist ein größeres als bei den Menschen, die in der Alltäglichkeit leben, und so ist das Verlangen, in die Zukunft zu blicken, bei jenen sehr erklärlich. Im Charakter Wallensteins hat Schiller diesen Zug meisterhaft dargestellt. Wie der bekannte langjährige Vorleser Kaiser Wilhelms I, der Hofrat Louis Schneider, in seiner Lebensgeschichte des Kaisers erzählt, hatte er oft die Gelegenheit, zu beobachten, daß in den Kreisen der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 769. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0769.jpg&oldid=- (Version vom 26.4.2023)