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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

nimmt, um dadurch dessen Wohl fördern zu können. Die Gegenstände der Hygieine sind also hauptsächlich: die Luft mit ihrer physischen und chemischen Veränderung; Kleidung, Wohnung, Beheizung und Ventilation, Beleuchtung, die Beschaffenheit und Lage der Bauplätze; der Boden mit seinem Gehalt an Luft und Wasser und dergleichen; das Trinkwasser und die Wasserversorgung; Nahrungsmittel und Viktualienpolizei; Genußmittel und Kostregulative; die Abfälle des Haushalts und der Gewerbe; Kanalisierung und Desinfektion; Leichenschau und Beerdigungswesen: die gesundheitsschädlichen Gewerbe; die Beschaffenheit der Schulen und Kasernen etc.; die Gesundheitsstatistik.

Es war nur zu natürlich, daß derartige Forschungen den Gelehrten veranlaßten, vor allem die grimmigsten Feinde der menschlichen Gesundheit, die großen epidemischen Krankheiten vor den Gerichtshof der Wissenschaft zu ziehen. Und das that Pettenkofer mit einer unübertroffenen Energie, mit rücksichtslosem Heldenmute, aber auch mit beispiellosem Erfolge. Zwei furchtbare Choleraepidemien, welche München in den Jahren 1854 und 1873 heimsuchten, gaben ihm reichliche Gelegenheit, seine Untersuchungen über diese todbringende Seuche anzustellen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren epochemachend in der Geschichte der Medizin. Sie führten Pettenkofer zur Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung der Bodenbeschaffenheit für diese Krankheit. Heute steht Pettenkofer an der Spitze jener Hygieiniker, welche die Kontagiosität der Cholera und damit die Wirksamkeit der Sperr- und Isoliermaßregeln bestreiten. Die Beobachtungen der Hygieine über die Cholera wurden durch Pettenkofer sofort auch auf den Typhus ausgedehnt. Und auf diesem Gebiete ward seine Thätigkeit überaus segensreich. Zur Zeit, als er seine Untersuchungen begann, galt München für eine der ungesundesten Städte Europas. Namentlich war es der Typhus, der jahraus jahrein zahllose Opfer forderte, insbesondere junge Leute im blühendsten Alter. Nachdem Pettenkofer aber aufgedeckt hatte, daß diese Krankheit im innigsten Zusammenhange mit der Beschaffenheit des Bodens, mit den in ihm und im Trinkwasser enthaltenen Krankheitskeimen steht, und nachdem auf seine Anregung hin die einichtsvolle Münchner Stadtverwaltung die größten Anstrengungen gemacht hatte, um durch Kanalisation und Beschaffung eines reinen, vorzüglichen Trinkwassers ihre Stadt zu sanieren, wich der Typhus aus den Münchner Spitälern in wahrhaft erstaunlicher Weise.

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Professor Max von Pettenkofer.
Nach einer Aufnahme von Photograph F. Müller in München.

Die Anerkennung solcher Verdienste ließ nicht auf sich warten. Schon im Jahre 1865 hatte Pettenkofer die Genugthuung, daß an den bayrischen Universitäten Lehrstühle für Hygieine errichtet wurden. Andere Hochschulen folgten. Im Jahre 1872 erhielt Pettenkofer einen höchst ehrenvollen Ruf an die Wiener Universität, wo er ein eigenes hygieinisches Institut errichten sollte. Die Lockung war glänzend. Als aber die bayrische Regierung, um den Gelehrten zu halten, fragte, welche Bedingungen er stellte, um in München zu bleiben, forderte er für sich selbst nichts, nur die Mittel zur Errichtung eines hygieinischen Instituts. Diese Mittel wurden gewährt, und Pettenkofer blieb. Das Institut ist seit 1878 in Betrieb und hat seitdem schon oft als Muster für die Einrichtung von ähnlichen Instituten an anderen Universitäten gedient.

Eine Reihe von städtischen und staatlichen Behörden wandte sich seitdem an Pettenkofers Autorität, wenn es galt, in wichtigen hygieinischen Fragen zu entscheiden. Das deutsche Reichsamt des Innern rief ihn l873 nach Berlin als Vorsitzenden der Cholerakommission des Reiches; und als in Berlin das Reichsgesundsheitsamt errichtet ward, sollte er dessen Direktion übernehmen. Er lehnte dankend auch diesen Ruf ab. Dagegen zögerte er nicht, wenn sich die Gelegenheit ergab, Studien über Epidemien an Ort und Stelle zu machen. So reiste er 1865 zu Cholerastudien nach Altenburg und Sachsen, 1868 nach Frankreich, Spanien und Malta – mit rücksichtslosem Opfermute die eigene Gesundheit preisgebend, um für die Gesundheit der ganzen Kulturwelt zu arbeiten.

Es ist unmöglich, in kleinem Raume alles zu nennen, was Pettenkofer geleistet und geschaffen hat. Ueber hundert teils größere, teils kleinere Schriften enthalten die Ergebnisse seiner Forschungen, zu denen sein rastloser Spürsinn ihn führte. Und wie entlegen waren mitunter die Gebiete, auf denen er sich bewegte! Da sehen wir ihn die Beschaffenheit der vom Menschen einzuatmenden Luft in geschlossenen Räumen auf experimentellem Wege untersuchen und prüfen, wie weit die Luft in solchen Räumen abgenutzt und auf welchen Wegen sie erneuert werden kann; wir sehen ihn den Wassergehalt von Wänden in Neubauten untersuchen, um die Bewohnbarkeit solcher Bauten zu beurteilen. Dann wieder beobachtet er die gesundheitlich wichtigen Eigenschaften der Kleiderstoffe; er erfindet einen großen kunstvollen Respirationsapparat, der die Beobachtung der vom Menschen ein- und ausgeatmeten Stoffe ermöglicht. Jahrelange Arbeiten, die er mit seinem Freunde Voit mittels dieses Apparates macht, führen zu den wertvollsten Ergebnissen. Dann sehen wir ihn wieder, wie er Schächte in den Boden der Städte graben läßt, um in dem felsigen oder kiesigen, sandigen oder lehmigen Grunde nach den kleinsten Feinden des Menschengeschlechts zu fahnden. Und während er jedes Kapitel der Hygieine entweder selbst begründet oder bereichert, findet er noch Zeit, ein berühmtes Verfahren zur Wiederauffrischung trüb gewordener und rissiger Oelbilder zu entdecken und auszubilden.

Ihm war eben jener Meisterblick gegeben, der das sieht, was andere nicht sehen, und jene Phantasie, die bei jedem Ereignis oder Gegenstand die verursachenden Gründe der Reihe nach dem prüfenden Verstande vorführt, damit er sie würdige. Diese schöpferische Phantasie im Zusammenwirken mit der reifsten Erfahrung und überlegender Beobachtung: sie sind das große Geheimnis der Erfolge Pettenkofers.

Als Knabe war er oft mit nackten Füßen hinter der Herde seines Vaters durch das braune Rohr des Donaumoors gelaufen. Erdrückend häuften sich späterhin von allen Seiten her die Ehrungen auf den anspruchslosen Mann. In Bayern ward er Geheimrat und Präsident der Akademie der Wissenschaften; er erhielt den Adelsstand und das Prädikat Excellenz; zahllose Akademien, wissenschaftliche Verbände und Institute wählten ihn zum Ehrenmitgliede; alle Dynasten überschütteten ihn mit dem funkelnden Regen ihrer Orden. Aber auch schwere Schicksalsschläge blieben ihm nicht erspart; er mußte den Verlust zweier Söhne und einer blühenden Tochter, endlich auch noch den seiner treuen Gattin Helene ertragen. Seine eiserne Natur trotzt heute noch den Stürmen des Alters.

Nun ist ein halbes Jahrhundert vergangen, seit er mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen auf dem Gebiete der Hygieine begann. Was in diesem halben Jahrhundert die Gesundheitspflege an Hochschulen, in der Gesetzgebung, in den Staats- und Gemeindeverwaltungen geworden ist: das meiste davon ist Pettenkofers mächtiger Anregung zu verdanken.

Und wie der hochbetagte Gelehrte zeitlebens nicht aus Büchern längstgedachte Gedanken zusammenzutragen und zu sichten liebte, sondern mit spürender Phantasie, mit dem packenden Griffe des Experiments in die tausendfältig versponnenen Thatsachen und Ereignisse des Lebens eindrang; wie er hineinforschte in die Grundfesten unserer Häuser, in die über uns schwankende Luftsäule, in das fließende Wasser der Ströme und in die Glut unserer Herdfeuer, überall Feindliches und Freundliches scheidend: so steht er auch in seiner persönlichen Erscheinung vor uns, als eine markige kraftvolle Gestalt, ein greiser und furchtloser Pfadfinder und Entdecker, dessen scharfes Auge heute noch den ganzen Kreis des von ihm erschlossenen Wissenszweige beherrscht. Und – was schwerer wiegt als dieses – als ein ratender Freund und Wohlthäter des leidenden Menschengeschlechts!


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0855.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)