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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die jetzt gesichtet und katalogisiert in der Arsenalbibliothek zu Paris liegen, darthun. So will er z. B. diese ganze Zeit an Händen und Füßen gefesselt zugebracht haben, während ein Bericht darthut, daß ihm schon nach sechs Monaten die Fußschellen abgenommen wurden. Daß die Nahrung gut blieb, zeigt eine Notiz, wonach sich Danry lebhaft darüber beklagt, daß man ihm Geflügel vorsetze, das nicht gespickt sei. Auch in der Kleidung war er sehr anspruchsvoll. Einmal verlangte er einen blauen Schlafrock mit roten Streifen, und der Bericht eines Offiziers erklärt umständlich, warum dieser kühne Wunsch nicht befriedigt worden sei.

Am 19. April 1764 starb die Pompadour, die man mit Recht die schwerste Last Frankreichs genannt hatte. Der sehr humane Polizeidirektor de Sartine bemühte sich nun ernstlich um Danrys Freilassung. Der Gefangene wurde wieder nach Vincennes gebracht, wo er häufiger ins Freie gehen konnte. Hier verwandelte er sich in den Vicomte Masers de la Tude, weil er gehört hatte, daß in seiner Heimat ein Marquis dieses Namens gestorben war, den er nun ohne weiteres als seinen Vater annektierte. Als Vicomte verlangte er neben seiner Freilassung auch eine Entschädigung von 150 000 Franken und das Ludwigskreuz.


Die Bastille.


Trotz dieser neuen Extravaganz war Sartine auf dem Punkte, seine Befreiung durchzusetzen, als Latude, wie wir ihn von nun an nennen wollen, die Thorheit einer neuen Flucht beging, als er in starkem Nebel von einem Soldaten spazieren geführt wurde. Er wurde alsbald wieder eingefangen, weil er in Paris blieb und von dort aus allerlei technische Erfindungen verschiedenen berühmten Persönlichkeiten anbot. In der neuen Gefangenschaft vermehrten sich seine Wutanfälle, so daß er im September 1775 in die Irrenanstalt von Charenton versetzt wurde. Sein Zustand besserte sich dort rasch, und am 5. Juni 1777 wurde ihm endlich die langersehnte Freiheit unter der Bedingung geschenkt, daß er in seine Heimat Languedoc zurückkehre. Latude blieb aber in Paris, schrieb Drohbriefe und Bettelbriefe an alle Welt und wurde am 16. Juli 1777 wieder gefangen gesetzt, weil er in Saint-Bris bei Auxerre in das Haus einer alleinstehenden Edelfrau eingedrungen war, um von ihr durch Drohungen Geld zu erpressen. Diesmal wanderte der selbstgeadelte Vicomte weder nach der Bastille, noch nach Vincennes, sondern in das Diebsgefängnis von Bicêtre. Aus Rücksicht auf seine usurpierten Ahnen nahm denn auch Latude hier den bürgerlichen Namen Jedor an. Die fünf ersten Jahre in Bicêtre waren in der ganzen Reihe der dreiunddreißig Kerkerjahre allein wirklich bitter zu nennen. Latude hatte immerhin auch hier Gelegenheit, Bittschriften über Bittschriften in die Welt zu schicken. Im Jahre 1782 fand nun zu seinem großen und unverdienten Glück die Händlerin Legros eine solche Bittschrift auf der Straße, wo sie ein Gefangenwärter von Bicêtre verloren zu haben scheint. Diese Frau Legros und in geringerem Grade ihr Mann sind die wahren Helden der Geschichte des zwar beklagenswerten, aber höchst unwürdigen Latude. Von seinem Schicksal tief gerührt, setzte diese einfache Frau aus dem Volke alle Hebel zu seiner Erlösung in Bewegung.

„Es ist ein erhabenes Schauspiel,“ sagt Michelet nicht mit Unrecht, „diese arme Frau in bescheidenem Gewand von Thüre zu Thüre gehen zu sehn, wie sie die Lakaien zu gewinnen weiß, um in die vornehmen Häuser zu dringen und vor den Großen ihre Sache zu verteidigen.“ Dank der Frau Legros entstand in kurzer Zeit in Paris eine allgemeine Bewegung zu gunsten des unglücklichen Latude, an deren Spitze sich die junge Königin Marie Antoinette und die Gattin des Ministers Necker stellten. Am 24. März 1784 verfügte endlich der König, von allen Seiten gedrängt, obschon er den Fall genau kannte, die Freilassung und bewilligte obendrein dem Opfer der Pompadour eine Pension von 400 Livres (nach heutigem Geldwert gegen 1000 Mark).

Der befreite Latude wurde nun erst recht der Held des Tages. Die königliche Pension war bald nur noch der kleinste Teil seines Einkommens. Mochte sein Adel noch so schwindelhaft sein, er erhielt aus der Kasse für arme Edelleute eine Pension von 600 Livres, von der Herzogin von Kingston ebensoviel, vom Präsidenten Dupaty 500, vom Herzog von Ayen 300 Livres, und zwar immer als laufende Pension. In allen vornehmen Gesellschaften war er der begehrteste Gast. Seine lügenhaften Memoiren waren das gelesenste aller Bücher und trugen ihm ebenfalls viel Geld ein. Trotzdem konnte sich der alte Adam nicht ganz verleugnen: bei einer Versteigerung versuchte er mit einem falschen Goldstück zu zahlen und leugnete dann, daß es von ihm herkomme. Bei einem Besuch in England strengte er von dort aus eine Klage an, um von den Erben der Pompadour und andern Leuten 1 800 000 Livres Entschädigung zu fordern. Unter der Republik zog der Vicomte de la Tude seinen Namen vorsichtigerweise in Latude zusammen und gerierte sich als eifriger Sansculotte, um seine Pension zu retten. Im Jahre 1791 wagte es der Abgeordnete Voidel trotzdem, vor der Nationalversammlung die wahre Geschichte Latudes zu enthüllen, und infolgedessen wurde die Pension unterdrückt. Noch war aber die Schwärmerei für den berühmten Gefangenen so groß, daß das Parlament dem Drucke der öffentlichen Meinung nachgeben und die Pension wenige Tage nachher wiederherstellen und auf 2400 Livres erhöhen mußte. Latude erreichte in trefflichster Gesundheit, die dem Regime und der Kost der Bastille ein gutes Zeugnis ausstellt, sein achtzigstes Jahr und starb am 1. Januar 1805 plötzlich an einer Lungenentzündung.

Dies ist die wahre Geschichte des „rührendsten Opfers“ der Bastille. An ihrem üblen Anfang ist die Maitressenwirtschaft am Versailler Hofe schuld und an ihrer langen Dauer die unvernünftige Aufführung des Opfers selbst. Sie hat dennoch das meiste dazu beigetragen, die hochragenden finsteren Mauern am Ende der Rue Saint-Antoine so verhaßt zu machen, daß sich der aufrührerische Pöbel am 14. Juli 1789 nicht mit der ursprünglich beabsichtigten Plünderung des Waffenvorrats begnügte, sondern, wie erwähnt, den Gouverneur und einen Teil der Besatzung niedermachte und das ganze Gebäude zerstörte. Ein eigentlicher Kampf fand dabei nicht statt. Nachdem das Volk über die erste Zugbrücke, die ein geschickter Beilschlag niederfallen ließ, in den Hof des Gouverneurs eingedrungen war, wurde parlamentiert, aber trotz des bewilligten freien Abzugs gleich darauf der Gouverneur de Launey, einige Offiziere und einige Invaliden niedergemacht. Beinahe hätte man in der Verwirrung die Gefangenen vergessen. Man fand ihrer im ganzen Gebäude nur sieben, und wie wenig Teilnahme verdienten sie! Vier davon waren Wechselfälscher, die man keineswegs dem gewöhnlichen Gericht entzogen hatte, sondern deren Prozeß regelrecht instruiert wurde. Der Fünfte hatte sich an einem Attentat auf Ludwig XV indirekt beteiligt und war schon seit langen Jahren geisteskrank. Der Sechste war bereits als Narr in die Bastille gekommen, da seine Familie sie einem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0033.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)