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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Gegenstände unserer Umgebung ihre Ruhelage bewahren oder sich doch nur in Bewegung setzen, wenn eine uns bekannte, von uns wahrgenommene Ursache den Anstoß dazu giebt. Dieses Vertrauen in die Beharrung der Objekte liegt so tief in unserer Erfahrung begründet, daß jede Abweichung davon uns peinlich berührt. Wir sehen auch, daß zum Beispiel ein Hund mit allen Zeichen lebhaften Schreckens entweicht, wenn ein in seiner Nähe an der Wand stehender Stock umfällt; offenbar erschreckt ihn besonders die unerwartete Bewegung des leblosen Gegenstandes. Wir selbst sehen es mit Ruhe an, wenn sich ein Wagen neben uns in Bewegung setzt, dessen Abfahrt wir vorausgesehen haben, aber wir schrecken zusammen, wenn dasselbe plötzlich geschieht, ohne daß wir es erwartet hatten. Vielfach tritt dabei ein deutliches Schwindelgefühl auf; die unerwartete und im Augenblick noch nicht klar gedeutete Bewegung macht uns den Eindruck, als ob wir selbst uns bewegten. Jedermann kennt das täuschende Gefühl, das uns in der Eisenbahn in dem Augenblicke ergreift, wo sich neben unserem Wagen ein anderer Zug in Bewegung setzt; hier tritt natürlich kein Schwindelgefühl auf, weil die Bewegung nichts Unerwartetes hat.

Es können aber auch beim Eisenbahnfahren Schwindelgefühle eintreten, nur daß diese nichts mit dem Unerwarteten zu thun haben, sondern mehr als körperliche Wirkungen zu betrachten sind. Wenn man sich bemüht, bei schnellfahrenden Zügen die scheinbar in wilder Hast vorbeifliegenden Teile der Landschaft ins Auge zu fassen, so übersteigt die Geschwindigkeit der wechselnden Bilder sehr bald die Aufnahmefähigkeit des Auges, man kann das Auge nicht mehr sicher auf den Gegenstand des Sehens einstellen. Die Wirkung ist ganz ähnlich wie bei dem beliebten Spiel der Kinder, wobei sie sich schnell um sich selbst drehen, oder auch beim Tanzen. Es ist bekannt, daß man beim Tanzen viel weniger leicht schwindlig wird, wenn man nicht um sich sieht und die scheinbar umherwirbelnden Objekte betrachtet, sondern vor sich niedersieht. So pflegt auch der Eisenbahnschwindel nicht einzutreten, wenn man nicht zum Fenster hinaussieht; er ist auch geringer beim Vorwärtsfahren, wo man die Bilder schon verhältnismäßig lange herankommen sieht, als beim Rückwärtsfahren, wo sie kurz vorbeihuschen und dabei von Augenblick zu Augenblick undeutlicher werden. Es sei nebenbei bemerkt, daß dies nicht der einzige Unterschied in der Wirkung des Vorwärts- und Rückwärtsfahrens ist, denn mancher verträgt letzteres auch im Dunkeln und bei geschlossenen Wagenvorhängen nicht, ein Zeichen, daß die Bewegung an sich etwas Einfluß haben muß.

Die schwindelerregende Wirkung des schnellen Vorbeiziehens der Gesichtseindrücke verrät sich übrigens auch sonst bei vielen Gelegenheiten, so wenn ein Eisenbahnzug in voller Fahrt dicht vorbeifährt, oder wenn die Fülle der sich vorbeibewegenden Eindrücke sehr groß ist, z. B. wenn man in belebten Straßen der Großstädte die Einzelheiten der vorüberwogenden Menge genauer betrachtet. Auch ein einfacher Wechsel der in unser Auge gelangenden Lichtmenge kann ähnlich wirken, so z. B., wenn wir an einem Lattenzaun entlanggehen, hinter dem die Sonne steht, oder bei fortgesetztem Flackern einer Bogenlampe etc. Viele Menschen empfinden bei diesen Eindrücken nur ein Unbehagen, sensible dagegen oft ein deutliches Schwindelgefühl. Bei empfindlichen Personen genügen auch von den angedeuteten Bewegungsvorgängen schon recht geringe Grade, um sie schwindlig zu machen; es giebt Menschen, die schwindlig werden, sobald sie schnell den Kopf drehen oder sich tief bücken. Bei solchen genügt wohl auch die durch Alkohol oder Kaffee oder durch eine starke Cigarre hervorgerufene Erregung des Blutumlaufs, um Schwindelgefühle zu erzeugen.

Viel größer und nachhaltiger ist die Schwindelwirkung, wenn die Gleichgewichtsstörung durch ganz unerwartete und stark erregende Vorgänge bewirkt wird, wie z. B. beim Erdbeben. Es ist wiederholt mitgeteilt worden, daß die von solchen Erschütterungen Betroffenen jahre- und jahrzehntelang das Gefühl der Unsicherheit nicht wieder losgeworden sind.

Zu den körperlich bedingten Schwindelgefühlen gehören auch die, welche bei einer Reihe von krankhaften Zuständen auftreten. Am bekanntesten sind dem Laien die Schwindelanfälle bei Ohnmacht und bei sogenannten Kopfkongestionen, bei Blutandrang zum Kopf. Sie mögen zum Teil mit den dabei vorkommenden Sehstörungen, mit dem Flimmern und dem Schwarzwerden vor den Augen, zusammenhängen, wie denn auch bei plötzlich eingetretenem Schielen infolge von Augenmuskellähmung ganz gewöhnlich Schwindel entsteht, der dann durch Schließen des abweichenden Auges beseitigt werden kann. Hauptsächlich wird es sich aber auch bei dem Ohnmachts- und Kongestionsschwindel um Schwankungen in der Blutverteilung in den Gleichgewichtsorganen des inneren Ohres handeln, deren Thätigkeit dadurch gestört wird. Auf direkter Störung dieser Organe beruht es auch, daß Erkrankungen des inneren Ohres oft zu sehr schweren Schwindelanfällen führen. Eine weitere Quelle von Schwindelerscheinungen, die ohne erkennbare äußere Ursache auftreten, sind Erkrankungen des Kleinhirns, das ebenfalls Organe zur Erhaltung unseres Körpergleichgewichtes enthält.

Von diesen im Ohr und im Gehirn liegenden Ursachen des Schwindels haben die meisten an der lästigen Erscheinung Leidenden etwas gehört, und sie kommen daher sehr gewöhnlich auf die Vermutung, daß auch bei ihnen etwas Derartiges vorliege. Das ist nun zum Glück in den weitaus meisten Fällen nicht richtig. Die Gehirn- und Ohrkrankheiten, die sich mit Schwindel verbinden, äußern sich regelmäßig zugleich in anderen, viel hervorstechenderen Erscheinungen, so daß es hierbei selten der Schwindel ist, der die Kranken zum Arzte treibt. Wo dagegen das Schwindelgefühl im Vordergrunde der Erscheinungen steht, handelt es sich fast ausnahmslos um neurasthenischen, d. h. auf Nervenschwäche beruhenden Schwindel. Auch dieser kann nämlich ohne jeden äußeren Anlaß auftreten, so daß der davon Befallene den Eindruck hat, es müsse irgend etwas in seinem Kopfe nicht in Ordnung sein. Die eigenen Empfindungen bei dem nervösen Schwindel wechseln der Art und dem Grade nach sehr. Oft handelt es sich nur um das Gefühl, als sei man nicht imstande, ganz gerade zu gehen, und dieses Gefühl tritt besonders dann auf, wenn man vor anderen hergeht und sich beobachtet glaubt. Gewöhnlich ist die nur durch eine gewisse Befangenheit hervorgerufene Unsicherheit, wenn überhaupt vorhanden, so gering, daß andere nichts davon sehen, zuweilen ist allerdings eine leichte Abweichung von der geraden Weglinie bemerkbar. Es handelt sich dabei in der That um nichts anderes, als wenn man, wie vorhin gesagt, auf einem Balken entlang gehen soll: nur die Befangenheit macht unsicher. In anderen Fällen haben die Neurasthenischen deutlich das Gefühl starken Schwankens, ja sogar des Hinstürzenmüssens, und es können sich Kopfdruck oder das Gefühl von Leere im Kopf, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, Schweißausbruch, Uebelkeit und sogar Erbrechen dazugesellen, kurz die körperlichen Begleiterscheinungen der Angst, die als eine häufige Erscheinung bei Neurasthenie vorkommen. Wie die Angstzustände selbst, mögen sie auch noch so bedrohend auftreten, niemals eine wirkliche Gefahr für den Kranken mit sich bringen, so sind auch die schwersten Schwindelanfälle der Neurasthenischen stets ungefährlich. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sie keiner Behandlung bedürften; vielmehr ist es dringend wünschenswert, daß sie von Anfang an recht sorgfältig behandelt werden, weil sie den Kranken immer sehr quälen, und weil ohnehin das dem Menschen zugeteilte Maß an Lebensfreudigkeit durch die so verbreiteten nervösen Krankheiten reichlich verkürzt wird.

Es kann nicht die Aufgabe dieser kleinen Abhandlung sein, die bei wirklichen Krankheiten vorkommenden Schwindelzustände genauer zu besprechen oder gar zu ihrer Behandlung anzuleiten. Dazu gehört in jedem Falle die Erfahrung des damit vertrauten Arztes, der die Behandlung genau dem Einzelfalle anzupassen hat. Aber es ist eine geeignete und, wie ich glaube, dankbare Aufgabe, den Leser darüber zu belehren, wie er die Neigung zu Schwindel und schwindelähnlicher Aengstlichkeit bekämpfen kann, die so vielfach bei Menschen mit „nervösem Temperament“ auftritt. Wir rechnen dazu vor allem die Schwindelgefühle, die beim Fahren auftreten, und damit überhaupt das beim Eisenbahnfähren auftretende Mißbehagen, ferner die übermäßige Empfindlichkeit gegen schnell wechselnde Sinneseindrücke, wie sie in dem Schwindligwerden beim Anblick vorüberwogender Menschenmassen zum Ausdruck kommt, und vor allem die zu große Höhenangst, den sogenannten Höhenschwindel.

Als Höhenschwindel bezeichnet man die Empfindungen des Unbehagens, der ängstlichen Unsicherheit, die sich bei sehr vielen Menschen einstellen, wenn sie von einem erhöhten Punkte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0143.jpg&oldid=- (Version vom 20.5.2020)