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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Ratsherren in Amtstracht aus den reich mit Schnitzereien verzierten Hausthüren hervortreten zu sehen! Die Anfangsvignette unseres Artikels zeigt uns einen prachtvollen Erker des Kaiserhauses, eines aus dem 16. Jahrhundert stammenden Renaissancebaues, der mit Medaillonreliefs und Statuen römischer Kaiser geschmückt ist.

An der Altdeutschen Herberge vorbei, die zu den ansehnlichsten Fachwerkhäusern gehört, gelangen wir bald auf den Mittelpunkt der Stadt, den Marktplatz. Die eine Seite füllt ganz die wundervolle Fassade des schönen Rathauses aus, an der anderen lenken das an Farbenschmuck überreiche Wedekindsche Haus mit seinen vorspringenden Erkern und Giebeln, daneben der merkwürdige Steinbau des Templerhauses mit den beiden Türmen rechts und links und dem Rathause gegenüber das prächtige „Knochenhaueramtshaus“ die Aufmerksamkeit auf sich. Von künstlerischem Reiz ist auch der alte Rolandsbrunnen auf dem Markte.

Die größte Zierde des Marktplatzes ist ohne Zweifel das Rathaus. Es ist im spätgotischen Stil gehalten und mit Laubengängen versehen; seine Errichtung fiel in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Tritt man in das Gebäude ein, so empfängt einen unten eine weite, geräumige Halle, von der eine breite Treppe zu dem sogenannten Rathaussaale emporführt, den man geradezu als eine Ruhmeshalle der Stadt bezeichnen kann, nicht nur weil der Bilderschmuck die geschichtlich großen Momente aus der Vergangenheit der Stadt vergegenwärtigt, sondern auch weil der Raum in Anlage und Ausstattung einen glänzenden Beweis liefert, daß man den Künsten hier bis auf den heutigen Tag die größten Opfer zu bringen bereit ist. Die getäfelte Decke mit ihrem reichen Bilderschmucke, der in der zarten Harmonie der milden Farben so wohlthuend auf Auge und Gemüt wirkt, an den Wänden die weltberühmten Fresken von Prell, dazwischen die kleinen allegorischen Darstellungen, die Porträts verdienter Männer, die köstliche Schnitzerei der Thüren … das alles wirkt so überwältigend, daß man nicht satt wird, zu sehen und in sich aufzunehmen.

Tritt uns so im Innern des Rathauses die neue Zeit in ihrem künstlerischen Können entgegen, so zeigt das gegenüberliegende Knochenhaueramtshaus den Fachwerkbau des 16. Jahrhunderts in seiner Vollendung. Das Haus diente der Schlächterzunft als Verkaufs- und Versammlungshaus. Unser Bild Seite 168 und 169 zeigt die dem Marktplatze zugekehrte Fassade, aber ebenso bemerkenswert ist die Seite, die nach der Straße zu liegt. Ueberaus reich ist der Bilderschmuck des Hauses; jeder Raum ist mit bunten, humoristischen oder allegorischen Bildern geziert, die zum Teil Beziehung zur Zunft haben; in ihnen spielt besonders Gott Amor in den allerverschiedenartigsten Situationen eine hervorragende Rolle. Aber nicht nur die freien Felder des Hauses, auch die Balken sind aufs reichste verziert, ja selbst die Backsteine sind so eingesetzt, daß sie allerlei prächtige Muster bilden. Man staunt über die hingebende Liebe des Künstlers, der das alles zu Ehren seiner Vaterstadt geschaffen hat, und wenn man dann selbst an den bescheidensten Privathäusern denselben Spuren künstlerischen Strebens begegnet, so muß man gestehen, daß unsere Vorfahren weit mehr Liebe und Kosten auf den äußeren Schmuck ihrer Häuser verwandt haben, als es jetzt geschieht, nicht weil sie reicher waren, sondern weil sie ein viel ausgeprägteres Heimatsgefühl und in ihren kleinen, selbständigen Gemeinwesen ein starkes Selbstbewußtsein besaßen, das uns heute in der beständigen Bewegung der Bevölkerung vielfach abhanden gekommen ist. Verlassen wir den Marktplatz und wenden uns an der alten Ratsapotheke vorbei, nach einem Blicke auf den Hohenweg, die Hauptverkehrsstraße der Stadt, wo die alten Fachwerkbauten mehr und mehr verschwinden, unter dem Säulenhaus hindurch dem Platze an der Andreaskirche zu, so stehen wir wiederum in einem berühmten Viertel Alt-Hildesheims. In der Mitte die Kirche mit ihrem gewaltigen Turme, ringsherum ein Kranz hübscher Fachwerkbauten, die überall durch den eigenartigen Schmuck der Schnitzerei und Bemalung das Auge erfreuen, auf allen Seiten die Ausgänge enger Gassen und Gäßchen, in die das Sonnenlicht kaum eindringt. In eine dieser Straßen, die Eckemecker, treten wir ein. Hier fesselt uns der Anblick der von Godehard erbauten Andreaskirche, die neuerdings restauriert wurde; wir gehen dann am Rolandsstift vorbei und wenden uns durch die Poststraße dem Domhofe zu.

Das Rathaus.

Empfand man am Markte, daß man auf dem Boden einer selbstbewußten, stolzen Hansastadt mit kräftiger, reicher Bürgerschaft stand, so fühlt man hier, daß man am Sitze kirchlicher Fürsten sich befindet. Es ist geweihter Boden, auf dem wir stehen: seit mehr als tausend Jahren werden an diesem Orte die Freuden und Leiden der Gläubigen vor das Angesicht des Höchsten getragen; welche Schicksale hat der alte Dom, der dort so weltentrückt durch das Laub der Bäume hindurchscheint, erlebt!

Der Dom ist ein Bauwerk der frühromanischen Zeit und zeigt in seinem Grundriß die sächsische Anlage der Basilika; er geht in seinen Anfängen auf die Bischöfe Altfried († 874) und Godehard († 1079) zurück, doch haben auch die folgenden Zeiten daran mitgearbeitet und ihm ihr Gepräge aufgedrückt, „so daß eine Wanderung durch sein Inneres gleichsam ein Gang durch die Kunstgeschichte eines Jahrtausends ist.“ Von den Schätzen des Domes greifen wir nur einige heraus, vor allem die Bernwardsäule, ein Werk des großen kunstsinnigen Bischofs, das in 24 Reliefs Bilder aus dem Leben Jesu zeigt, die in Spiralen um die Säule sich winden: sie war gekrönt mit einem Kruzifix und bei besonders festlichen Gelegenheiten mit dem berühmten Kreuze Bernwards. Noch vor wenigen Jahren stand die Säule mitten unter den Linden des Domplatzes, bis der Minister, der die nachteiligen Einflüsse der Witterung fürchtete, ihre Aufstellung im Innern der Kirche verlangte. Der Domplatz hat dadurch etwas von seinem eigentümlich stimmungsvollen Charakter verloren, obwohl die Lücke durch das schöne Bernwardsdenkmal ausgefüllt worden ist. Auf Bernward gehen auch die berühmten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0174.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)