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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Mit ernsten Augen blickte Lo’ zum Himmel und zu den Bergen auf. „Sieh nur, der Wind hat gewechselt,“ sagte sie zögernd. „Ich fürchte, wir bekommen heute noch böses Wetter!“

„Aber Lo’!“ Gustl versuchte zu lachen. „Du? Und fürchten?“

„Du bist bei mir!“ sagte sie und strich dem Bruder das Haar aus der Stirne.

Da klang ein gellender Jauchzer aus dem Wald. „Das ist Loisli!“ rief der Knabe und ließ zur Antwort seine Stimme schrillen.

Der Hüterbub kam zum Gartenzaun gesprungen, so atemlos, daß er den Gruß kaum herausbrachte. Während er noch mit stotternden Worten nach Luft schnappte, tauschte er schon mit Gustl einen wichtigen Blick und blinzelte zum See hinunter.

„Aber Bub,“ sagte Lo’, „weswegen hast denn wieder so rennen müssen?“

„Daß ich … g’schwinder da bin und … und länger bleiben kann!“

„So? Na also, dann bleib’ halt!“ Sie nahm ihm den Proviant ab, den er gebracht hatte, und stellte das Geschirr in den Schatten der Hütte.

Diesen Augenblick benutzte der Bub, um Gustl zuzuflüstern: „Heut’ beißen s’, d’ Fisch’! Ein Wetter kommt!“

Gustl rannte in heißem Eifer hinter die Hütte und brachte die Angelrute.

„Ach so? Ihr wollt fischen?“

„Ja, Lo’! Und ich bitt’ schön … gelt, ich darf? Weißt du, der Loisli kann’s so gut!“

Wieder fuhr ein Windstoß über den Wald her, und wieder blickte das Mädchen in Unruhe zum Himmel auf.

„Kind! Ich glaube fast, es wäre klüger, wenn wir heim gingen.“

„Schon heute? Lo’?“ Dem Knaben schossen die Thränen in die Augen.

„Ein schweres Wetter wird kommen …“

„Aber Lo’, es ist doch der ganze Himmel blau!“

„Jetzt, ja! Aber in ein paar Stunden wird’s anders aussehen.“

„Ja, Fräul’n,“ fiel Loisli höchst undiplomatisch ein, während er an der sonnigen Hüttenwand eine Fliege nach der anderen fing, um Köder für die Angel zu sammeln, „heut’ wird’s grob auf d’ Nacht.“

„Hörst du? Und denk’ nur, wie sich Mama dann wieder sorgen wird.“

„Aber schau, Lo’, sie weiß doch: ich bin bei dir! Da bin ich doch gut aufgehoben … auf dich kann sie sich doch verlassen! Ich bitt’ dich, Lo’!“

Es wurde ihr schwer, dem Flehen dieser Stimme und dieser nassen Augen zu widerstehen.

„Und dann … wir haben doch fünf Stunden bis hinaus … da könnten wir doch erst recht ins Wetter kommen.“

Sie lächelte. „Du kleiner Schlaukopf, du! Na, meinetwegen … geh’ fischen! Ich will an Mama ein paar Zeilen schreiben. Der Sebener Senn trägt heute noch ab, und dem geb’ ich sie mit. Dann hat Mama den Brief vor Abend, und wenn es zu gießen anfängt, weiß sie: wir sind unter Dach.“

Ein stürmischer Kuß – und mit lachender Freude tollten die beiden Knaben zum See hinunter.

Lolo setzte sich an den Tisch, aber sie begann den Brief nicht gleich. Die Hände im Schoß und den Kopf an den Baum gelehnt, blickte sie in Gedanken zu den wehenden Zweigen auf. Aber sie schien das Schwanken und Neigen der vom Wind bewegten Aeste nicht zu sehen, die tönenden Stimmen der Wipfel nicht zu hören. Dann plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, strich sie mit der Hand über die Stirn und begann mit raschen, kräftigen Zügen zu schreiben.

Sie hatte den Brief noch nicht vollendet, als über die Büsche vom See herauf ein jubelnder Schrei tönte. „Lo’! Lo’! Wir haben eine riesige Forelle gefangen!“ Und Gustl jauchzte, daß es weit hinaushallte über die steilen Berge.

Mit zerstreutem Lächeln blickte Lolo auf, und nach einer Weile, als sie den Brief an die Mutter geschlossen hatte, ging sie zum See hinunter. Gustl kam ihr entgegengesprungen, mit der Forelle in den erhobenen Händen. „Schau nur, Lo’! Und drei andere haben gebissen! Aber die ist schön, gelt? Die ist schön?“

Gar so „riesig“ war die Forelle nun freilich nicht, aber ein Pfund mochte sie immerhin wiegen.

„Ja, die ist schön! Ich nehme sie dann gleich mit hinauf. Die koch’ ich dir heute zu Mittag.“

„Aber Lo’! Ich hab’ die Forelle doch für dich gefangen!“

Lächelnd sah sie dem Knaben in das vor Eifer und Freude glühende Gesicht. „Ich danke dir! Wie gut du bist! Aber wir teilen, gelt?“

Sie wandte sich an den Hüterbuben. „Loisli! Du wirst heim müssen. Jetzt warst du schon über eine Stunde da, und der Vater wird dich bei der Arbeit brauchen. Aber magst mir noch einen Gefallen erweisen?“

Der Bub legte die Angelrute nieder.

„So trag’ mir diesen Brief zum Sebener Senn hinunter. Er soll ihn mit hinaus nehmen nach Leutasch – für meine Mutter!“ –

Zwei Stunden später wurde droben im Schatten des Harfenbaumes Tafel gehalten. Nach der blauen Forelle gab’s noch einen Pfannkuchen, von welchem Gustl meinte, daß er den Pfauenzungen des Lucullus unbedingt vorzuziehen wäre – und in den Gläsern funkelte „vinum sacrum Sebenianum“, heiliger Sebenwein, wie Gustl das klare Quellwasser getauft hatte. Fast aber hätte die ganze schöne Bescherung dieses Mahls auf der Erde gelegen, denn ein jäher Windstoß blähte das Tischtuch wie ein Segel auf. Das war für den Knaben eine lustige Würze des Schmauses, und lachend trocknete er den „Sebenwein“ von seiner Lederhose, auf die das umgeschleuderte Glas gefallen war.

Als er der Schwester beim Abdecken des Tisches half, rollte ein dumpfer Hall über die Berge hin.

„War das Donner, Lo’?“

„Nein.“

Hoch droben in einem der Felsenkare, in stundenweiter Ferne, war ein Schuß gefallen.

Mit spähenden Augen blickte Lo’ zu den Bergen auf, deren Konturen in weißlichem Dunst verschwammen, und während zarte Röte ihre Wangen färbte, sprach es wie Sorge aus ihren Zügen. Wenn Jäger dort oben waren, dann durften sie sich eilen mit der Heimkehr!

„Wenn nicht Donner, was war es denn?“

Lo’ überhörte die Frage des Bruders, und nach einer Weile sagte sie: „Das Wetter kommt! Sieh nur, hinter der Sonnenspitze ziehen schon die ersten Wolken herauf. Eine Stunde, und der ganze Himmel wird grau sein.“

Sie sollte recht behalten. Wohl schob sich die stahlblaue Wolkenmasse mit ihren zerrissenen Rändern nur langsam über die Berge vor, aber von allen Wänden begann es aufzudampfen, und überall in den Lüften wuchsen die Nebel aus dem Blau heraus und flossen mit dem heranziehenden Gewölk zu einer dichten, grauen Decke zusammen, die alle Höhen verhüllte. Dennoch schien es, als ob die Spannung der Atmosphäre sich friedlich wieder lösen wollte. Windstille trat ein, das Ziehen und Drängen der Wolken wurde ruhiger, und gegen fünf Uhr nachmittags begann ein leichter gleichmäßiger Regen zu fallen.

Auf der Schwelle der Hüttenthür saßen die Geschwister im Schutze des vorspringenden Daches. Gustl, der jeden Wechsel im Wolkenbilde des Himmels gespannt verfolgte, plauderte mit erregter Unermüdlichkeit. Doch die Schwester hörte nur halb. In Sorge blickte sie immer wieder zu den umschleierten Bergen auf und über den See hinüber zu den Latschenfeldern, zwischen deren Büschen man die im Nebel verschwindenden Windungen eines Steiges kaum noch gewahren konnte. Das beklommene Wesen der Schwester fiel dem Knaben auf, und er fragte: „Lo’? Was hast du denn?“

„Ich weiß nicht, aber … dieses Wetter heute …“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0198.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2019)