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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Wegen neulich?“

„Nein.“

„Ich hab’s auch bereut …“ Mazegger hielt ihren Blick nicht aus und senkte die Augen, „denn daß man von Ihnen ein gutes Wörtl nur in der Güt’ erwartet, das hätt’ ich wissen müssen, und … und wie ein jähzorniger Bub hab’ ich mich benommen. Verzeihen Sie mir’s, Fräulein?“

„Ja, Mazegger!“ sagte sie freundlich, als hätte dieses Wort sie selbst von einem Alp erlöst.

Zögernd schob er den Hut auf den Tisch und setzte sich auf die Ecke der Bank. Die Fäuste ließ er auf den Knieen liegen, und während er mit neuem Zweifel in das Gesicht des Mädchens blickte, rührte er stumm die Lippen und suchte nach Worten.

„Sprechen Sie, Mazegger! Sagen Sie mir offen … was macht Ihr Leben elend?“

„Daß Sie das verstehen … dazu müßt’ ich Ihnen viel erzählen! … Darf ich?“

„Ja!“

Jedes Wort mußte er sich abringen, als er von seiner Heimat sprach, von allem Leid und aller Bitterkeit seiner Jugend. Dann aber, als er sah, mit welcher Teilnahme das Mädchen auf ihn hörte, schien es plötzlich, als wäre eine Fessel in seiner Brust gesprungen, und in heißer Erregung floß ihm die Sprache von den Lippen.

Es war eine trübe Kinderzeit, von welcher Mazegger zu erzählen hatte. Und als er in das Alter kam, in der die Knaben zu denken und schon mit einer Zukunft zu rechnen beginnen, da war vor seinen Füßen die Brücke niedergebrochen, die ihn hätte hinübertragen können zu einem freundlichen Leben. Erst kam das Unglück mit dem Vater. Und dann verließ ihn auch die Mutter. Carmè Luzzotti hatte sie geheißen – die Tochter eines italienischen Bahnarbeiters in einem Dorfe bei Trient. Als junges Mädchen verlor sie die Eltern und wurde von einer Schwelle zur anderen so herumgestoßen, bis sie ein Winkelchen im Haus des deutschen Lehrers fand. Der erbarmte sich der Verwaisten – weil sie jung und hübsch war. Zuerst diente sie bei ihm als Magd, und dann nahm er sie zur Frau. Aber es war kein Glück in dieser Ehe; diese beiden Menschen waren so verschieden voneinander wie ihre Sprache – und die Sprache, das war es auch, was immer zwischen ihnen lag wie eine Kluft und eine Mauer. Damals begann, wie überall, auch dort unten in dem südtiroler Dorfe der nationale Hader. Von der Straße und aus der Gemeindestube schlich er sich in die Familien ein, auch in das Haus des Lehrers. Auch als Frau eines Deutschen blieb Carmè Mazegger die Italienerin – und da hieß sie bei ihrem Mann die „Fremde“, die „Zigeunerin“, mit ihrem „Wällisch“, das ihr eigener Sohn nicht reden sollte. Der sollte sprechen wie sein Vater, der ihn verzog, ihm alles erlaubte, nur um ihn vom Herzen der Mutter wegzureißen. Dieser Zank und Hader ging immer über den Kopf des Knaben hin und her, und als er in die Jahre kam, um all diese häßlichen Worte zu verstehen, war es ihm selber lieb, daß man ihn fortschickte von daheim, nach Innsbruck auf die Gewerbeschule, mit vierzehn Jahren. In Innsbruck da gefiel es ihm, da konnte er was sehen vom Leben und lernte Menschen kennen, die es gut haben in der Welt und die etwas sind. Das weckte den Ehrgeiz in ihm. „Auch aus mir soll etwas werden, etwas Rechtes und Tüchtiges!“ Das war der Gedanke seiner Tage und Nächte.

Aber vor lauter Denken und Wünschen kam er nicht recht zum Lernen. Am liebsten wär’ er schon mit sechzehn Jahren gewesen, was andere, wenn sie Glück haben, mit dreißig werden. Und dann kam dieses Unglück zu Hause. Die italienische Schule wurde eröffnet und bald darauf die deutsche geschlossen. Das überlebte sein Vater nicht – er ging ins Wasser. Und die Mutter? Die wartete knapp ein halbes Jahr, und dann nahm sie einen anderen, einen, der ihre Sprache redete, und mit dem sie sich verstand.

„Mit dem ist sie fortgezogen. Ob sie noch lebt, oder ob sie schon gestorben ist … das weiß ich nicht! Und mich … mich hat eine Schwester meines Vaters ins Haus genommen, deren Mann in Leutasch draußen ein kleines Gütl hat. Die Schul’ hab’ ich aufgeben müssen … und alles dazu, von dem ich allweil gehofft hab’: es muß und muß mir kommen im Leben! … Mein Glück!“

Mazegger schwieg und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirne.

„Das Brot der Verwandten essen zu müssen … Schlechteres kann über einen nicht kommen in der Welt. Jeden Bissen haben sie mir in den Mund gezählt, und jeden hätt’ ich mir erst verdienen sollen … als billiger Knecht! Da hab’ ich zuletzt noch froh sein müssen, daß ich den Posten als Jäger gefunden hab’. Jetzt hab’ ich mein Auskommen … aber keine Ruh’ in mir! Allweil muß ich mir denken, wie ich dastehen könnt’ im Leben und was aus mir hätt’ werden können, wenn ich eine andere Kinderzeit gehabt hätt’, eine richtige Heimat, einen rechten Vater zu meiner Hilf’ und eine gute Mutter zu meinem Trost! Aber ich mein’ schier, es wär’ noch allweil nicht zu spät für mich! Ich glaub’, ich könnt’ noch in die Höh’ kommen im Leben … so hoch hinauf, daß eins, das mich lieb hätt’, auf mich noch einmal stolz sein könnt’. Das hab’ ich nie so fest geglaubt wie jetzt … wie jetzt …“

Seine Augen brannten und seine Stimme wurde heiser.

„Aber ich müßt’ wen haben, für den ich’s thu’ … wen haben, wo ich mir sagen müßt’: alles, was du in der Welt verdienen und erreichen kannst, das alles ist noch zu wenig für so viel Lieb’ und Glück! Das thät’ mich hetzen und treiben, allweil höher hinauf, von einer Staffel zur anderen … bis ich droben steh’, wo ich sagen könnt’: Jetzt verdien’ ich mein Glück und kann’s vergelten! … Daß ich das fertig brächt’ … ich glaub’s von mir! Ich glaub’s! … Und Sie? … Sagen Sie mir: Sie glauben’s auch … sagen Sie mir das einzig’ Wörtl … und alles bring’ ich fertig!“

Sie vermochte nicht gleich zu sprechen. Es schien ihr weh zu thun, daß sie ihm als Antwort auf seine Frage ein Ja nicht sagen konnte, nicht sagen durfte. Sie sah in ihm nicht den Menschen mit seinem ziellosen und ungeduldigen Lebenswunsch, mit seiner thörichten Hoffnung auf Gewinn und Besitz, mit dem leeren Wort von der eigenen Kraft, die nur einer Stütze und eines winkenden Lohnes bedarf, um ein Wunder zu vollbringen. Was sie sah in ihm, das war nur sein in die Irre geratenes Leben, nur das Kind, das niemals in der rechten Liebe eines Vaters ruhig geatmet und niemals warm an der Brust einer Mutter sein Haupt geborgen hatte. Und wie hätte sie, der die Erinnerung an die Kinderzeit und an die Liebe des Vaters ein so schöner, leuchtender Besitz ihres Lebens war, nicht Mitleid fühlen müssen mit solch einem armen, freudlosen Kinderschicksal! Dieses Erbarmen redete aus ihrem Blick und aus dem Klang ihrer Stimme, als sie endlich Worte fand. Doch während sie sprach, zuerst beklommen, dann immer freier und wärmer – während sie Trost für ihn suchte, ihm Mut einredete, ihn mahnte, sein Leben ruhiger zu betrachten, nur das Erreichbare zu wollen und dankbar auch den bescheidenen Gewinn zu genießen, statt sich die Freude an ihm durch den Vergleich mit dem glücklicheren Los der anderen zu vergällen – während all dieser Worte schien Mazegger nur zu sehen, nicht zu hören. Sein Atem ging schwer, rote Flecken brannten auf seinen Wangen, und seine Augen erweiterten sich mit fieberhaftem Glanz, aus dem der Durst seiner Leidenschaft und zugleich ein Staunen sprach, als hätte er das Mädchen, nach dem seine Sinne zitterten und schrieen, noch nie so schön gesehen wie in dieser Stunde.

Solch einem Blick begegneten ihre Augen – und da erhob sie sich erschrocken, so bleich, als hätte sie einen Schimpf erlitten, gegen den sie wehrlos war – als Weib.

Mit verstörtem Lächeln sah Mazegger zu ihr auf und erhob sich. „Viel haben Sie geredet, Fräulein … viel! Schier weiß ich selber nimmer, was es war! Aber ich hab’ doch genug verstanden!“ Er nickte, und seine Lippen verzerrten sich. „Was einer nicht hat, das kann er nicht geben … den guten Glauben nicht … und die Lieb’ noch weniger.“ Mit heiserem Lachen ging er halb um den Tisch herum. „Und wenn das Brünndl Ihrer Güt’ auch laufen thät’ wie ein Wetterbach … aber Lieb’ hergeben, wo man Lieb’ nicht hat …“ Langsam trat er auf sie zu. „Kann man das? … Oder kann’s so kommen, daß man muß?“

Sie wich nicht zurück vor ihm. Aber als sie seine Augen sah, diesen Blick, der wie mit Fäusten nach ihr griff, da rann es ihr doch mit kalter Angst durch die Glieder, daß sie zitterte. Und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0231.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2019)