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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Aber die starkgefüllte Bücherkiste ward nur zum kleinsten Teil ausgepackt. Achim fühlte, daß Studieren um des Studierens willen gar nicht seine Sache war. Er brauchte Gegendruck und Anreiz des praktischen Lebens. Mitten in demselben stehend, konnte er sich Stunden des Schlafes rauben, nur um eine Wissenslücke auszufüllen, die irgend ein Vorkommnis des Tages ihm offenbart. Und dann hatte er völlig die Vertiefung und Sammlung, die ihm hier, im einförmigen Lauf der Stunden, fehlte.

Vielleicht war der Frühling schuld, der ihn quälte.

Draußen im Lande, um Wälle und Gräben der Festung war ein Schimmern und Flimmern von jungem Grün der Wipfel, durch die der Wind strich, vom weißgelben Blühen der Wiesen und vom zitternden Silbergrau der Pappeln, die steilragend in langen Linien die Landstraße einsäumten. Wenn Achim auf dem Walle stand, ging sein Blick hinweg über die Ebene, die in zarten Farben reizvoll dalag, bis zum fernen Horizont, wo die blaßgräuliche Linie der Erde sich kaum noch vor dem blaßblauen Himmel abhob. Die Weite des Blickes und das Werden in der Natur machte es ihm doppelt qualvoll, an die eine enge Stätte gebunden zu sein.

Die Sehnsucht machte ihn beinah’ krank. Aber wonach er sich eigentlich sehnte, konnte er selbst nicht sagen.

Er rechnete sich täglich aus, wann die Begnadigung eintreffen könne. Daß er nicht die anderthalb Jahre hier bleiben werde, zu welchen er verurteilt worden war, unterlag keinem Zweifel. Eigentlich hatte er, wie die Sachen lagen, schon die kaiserliche Begnadigung viel früher erwartet.

Aber man konnte niemals wissen, durch was für kleine Zufälligkeiten und Äußerlichkeiten sie aufgehalten wurde.

Nun lief morgen der zweite Monat ab. Und als Achim von Körlegg von seinem Nachmittagsspaziergang heimkam, in sein mit spartanischer Einfachheit eingerichtetes Zimmerchen, dachte er: Morgen – gewiß morgen!

Er fühlte sich erschöpft und ärgerte sich, daß er einen einstündigen Spaziergang in den Gliedern spürte.

Wie ein nervöses Frauenzimmer, dachte er erbittert.

Auf seinem Tisch lag die Post. Er griff mit Gier nach den Sachen. Außer der Zeitung waren es drei Postkarten von Kameraden, eine Rechnung und ein Brief, der unter seiner Regimentsadresse an ihn abgesandt worden war, aus Amerika kam und ihm hierher nachgeschickt wurde.

Die Kameraden schrieben ihm scherzhafte Grüße und berichteten von einer Verlobung im Regiment.

Er hatte sich während des Winters für die betreffende Dame interessiert gehabt. Sie auch für ihn. Und er wußte: wenn jenes unselige Duell nicht dazwischen gekommen wäre …. wenn er seine Bewerbungen hätte fortsetzen können …. vorbei, vorbei! Es war alles so gleichgültig jetzt! Es lag so fernab in der Tiefe der Zeiten!

Er saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Der Tisch stand unter dem einen der beiden Fenster und that, als ob er ein Schreibtisch wäre, während vier ganz gemeine Holzbeine eine ebenso gewöhnliche Platte trugen. Achim hatte ihn mit Schreibzeug, Büchern und Papieren so beladen, daß er wie die Arbeitsstätte eines Gelehrten aussah.

Achim grübelte darüber nach, wieso ihm eigentlich der Wunsch nach einer ganz neuen Existenz aufgären konnte. Er liebte doch nach wie vor seinen Beruf. Er hätte gar nichts anderes sein mögen als gerade Offizier. Er liebte auch seine Kameraden, er durfte mit Wohlwollen oder mit Dankbarkeit an alle die Menschen denken, die der Zufall seinem Leben dienstlich oder gesellschaftlich beigeordnet hatte.

Er war sich bewußt, mit niemand in geheimer Abneigung oder offener Feindschaft zu leben.

Und dennoch war ihm wie einem, der am liebsten alle Schiffe hinter sich verbrannt hätte.

„Das sind überreizte Stimmungen,“ sagte er sich, „geboren aus der thatenlosen Einförmigkeit des Daseins.“

Und dann kam ihm ein ironischer Gedanke: Freilich, wenn man einen Menschen totgeschossen hat, ist das eine That, von der man sich lange ausruhen muß!

Er nahm den amerikanischen Brief in die Hand.

Von Robert Burry, dachte er. Der gute Junge ahnt von nichts.

Es war ihm mit dem Lesen nicht eilig. Der da geschrieben hatte, war ein Jugendfreund, der mit ihm zusammen Sekunda und Prima durchgemacht hatte. Aber seitdem führte Beruf und Nationalität ihre Wege weit auseinander. Achim von Körlegg trat in ein Garderegiment, und Robert Burry ging nach Washington zurück, sich der staatsmännischen Carriere zu widmen.

Achim war sich nie ganz klar darüber, ob der junge Amerikaner diese Jugendfreundschaft so zähe aufrecht erhielt aus wahrhafter Treue, oder um sich Beziehungen zu bewahren für den Fall einer Rückkehr nach Europa. Ebenso wußte er nicht, weshalb er selbst eigentlich immer antwortete. Vielleicht aus einer Art Pietät gegen frohe Jugendtage? Vielleicht um dann und wann aus einer andern, freieren Welt etwas zu hören, an dem er sich erheitern konnte, nach den landläufigen, harmlosen kleinen Schimpfereien im Kameradenkreis.

Ach diese Schimpfereien! Achim lächelte in sich hinein. Ueber was alles raisonnieren die jungen Lieutenants nicht? Gleichsam bloß zu einer Art Geistesgymnastik. Und was für lächerliche kleine Vorkommnisse so im Garnisons- und Kasinoleben zu Ereignissen aufgebauscht wurden, die man tagelang erregt besprach!

Er hatte nun wirklich was erlebt! Und das war so groß, so ernst, daß ihm jetzt noch däuchte, er könne nie wieder am Kleinkram des Dienstes wichtiges Interesse nehmen.

Wer weiß, dachte er plötzlich, es war vielleicht Schicksalsfügung, daß Robert und ich aneinander festhielten? Wenn ich hinüberginge .... ich könnte mich ein Jahr à la suite stellen lassen – es wäre eine große, einschneidende Abwechselung ....

Beinahe hastig riß er den Briefumschlag ab.

Robert Burry schrieb eine große Handschrift und reihte sie in weit voneinander abstehenden Linien hin. So stand auf zwölf Seiten kaum mehr, als ein hingebender Briefschreiber auf zwei Seiten bringen konnte.

 „Lieber Achim!

Vor acht oder zehn Wochen sandtest Du mir Deine Photographie. Ich danke nicht vor heute, weil ich inzwischen gewesen bin im Auftrage meiner Regierung nach San Francisco. Den langen, etwas mageren und faden Primaner – mit ‚fade‘ meine ich bloß die Farben – ich erkannte kaum wieder. Du siehst entschieden Frithjof Nansen ähnlich – vielleicht eine Kleinigkeit mehr Fülle im Wangenoval. Und, es scheint Dein helles Blond nachgedunkelt. Vielleicht aschgrau?

Also ein schöner Mann alles in allem geworden? Energisch, ein bißchen düster sogar? Oder hat der Photograph nur vergessen zu sagen: bitte, freundlich! Wann werde ich sehen das Original dieses interessanten Bildes wieder? Zwar sind erheblich meine Aussichten, einmal als Gesandtschaftsattaché nach Berlin zu kommen. Mein Vater bohrt dafür. Und wenn James Burry was will, wird es auch. Aber momentan ist keine Vakanz und wenn auch: zwei, drei Jahre es kann für mich noch dauern.

Aber Du? Mußt Du denn ‚drillen‘ ewig Rekruten? Du bist doch pekuniär unabhängig. Für deutsche Begriffe sogar wohlhabend. Also nimm mal einen Urlaub – so sechs Monate oder mehr wird sich die deutsche Armee behelfen ja wohl ohne den Premierlieutenant von Körlegg. Obenein: ich habe da was gelesen. Du weißt, ich halte zwei deutsche Zeitungen. Die Kreuzzeitung und – die Frankfurter Zeitung. Als Diplomat – –

Aber die erste Nachricht muß mir entgangen sein. Ich sah nur die zweite, die zu künden schien den letzten Akt eines Dramas. Du bist verurteilt zu einer langen Festungshaft infolge Duellvergehen? Wenn das einem Offizier passiert, bleiben die Jahre und Monate bei Euch ein papierner Scherz und so wirst auch Du vielleicht längst sein begnadigt. Aber Duelle haben Gründe und die Gründe sind manchmal peinlich. Der Pistolenschuß verknallt und verhallt – die Ursache steht noch da. Besonders wenn es ist ein Weib.

Ich bin nicht neugierig, aber ich sage: sitzest Du in Zuständen oder auch nur in Stimmungen, die Dir erscheinen lassen einen Luftwechsel für einige Zeit angenehm und nervenbekömmlich, so packe ein und komm her! Erst zeige ich Dir Washington und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0262.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)