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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

mit Thoreinfahrt. Das gehörte dem Ackerbürger Crolpa. Die Hühner liefen oft von seinem Hofe in die Einfahrt und bis auf die Straße hinaus. Eben kam der Bursche des Hauptmanns von Hallendorf und führte das Pferd seines Herrn heraus, so daß zwei Hennen kreischend und mit gesenkten, auseinander gespreizten Flügeln davonstoben.

Oben hinter dem ersten Fenster gähnte der Hauptmann gerade hinter dem Kreisblatt. Sabine konnte es noch sehen, dies Fenster war noch in ihrem Sehfeld.

An der andern Seite vom Krämer folgte ein modernes, nettes Haus mit zwei Stockwerken und je einem Erdgeschoßfenster rechts und links von der Hausthür. Unten links wohnte das alte taube Fräulein von Zimmermann; sie hatte nur 1200 Mark Rente und hielt sich bloß eine Morgenfrau. Rechts von der Hausthür wohnte die Modistin Fräulein Rodust; zwischen den Blumentöpfen auf ihrer Fensterbank sah man immer Tüll, Bänder und künstliche Blumen liegen. Das Fräulein galt für etwas unordentlich und man sagte, daß die Offiziere der Garnison sie mehr interessierten als ihre Hüte und Hauben. Im ersten Stock hauste der Rechtsanwalt Cohen mit seiner Frau und vier Kindern. Zwei hatten die Masern, aber Herr Küps sagte, es gehe sehr gut, denn sie bekämen schon Taubensuppe heute, Cohens Köchin habe bei Crolpa zwei Tauben geholt, zu dem unerhörten Preis von achtzig Pfennig pro Stück, woran man wieder mal sehe, was Crolpa für einen Charakter habe. Im zweiten Stock lebten Rechnungsrats, denen das Haus gehörte, selbst. Bei Frau Rechnungsrat war heute Kaffeegesellschaft, zwei Kuchen und eine Torte hatte der Bäckerjunge schon gebracht; Frau Kaufmann That hatte abgesagt, weil noch immer Masern im Hause seien, während Frau Apotheker Müller als aufgeklärte Frau eine solche Angst für albern erklärte.

Jetzt löste sich Herr Küps drüben aus seiner leutselig nachlässigen Haltung, denn der Bursche des Herrn Leutnant Bläser kam, um zum Abendbrot für seinen Herrn Einkäufe zu machen.

Zwei Minuten ging niemand vorbei. Zwischen den Kopfsteinen auf der Straße standen noch Spuren von Regen. Der Himmel sah grau, aber wolkenlos herab, er war ganz und gar gleichmäßig überzogen.

Sabine seufzte schwer. Sie stützte den Ellbogen auf das Fensterbrett, wo er zwischen bunten Porzellanblumentöpfen, in denen aber keine Gewächse standen, Platz fand. Sie legte ihr dunkles Haupt in die zur Schale geformte Hand und starrte vor sich hin.

Drüben dachte Hauptmann von Hallendorf: Wie die schöne Frau mit ihrer blassen Hand kokettiert. Er legte sein Kreisblatt weg und that, als unterhielte er sich damit, die Vorübergehenden zu beobachten, während er darauf hoffte, mit Sabine einen Blick wechseln zu können.

Einmal mußte sie doch wieder herblicken. Es war doch eine Rechnung, so sicher, wie zweimalzwei ist vier, daß die tödliche Langeweile diese wunderschöne Frau endlich zwingen mußte, sich eine Zerstreuung zu suchen.

Aber Sabine merkte nicht, daß der Hauptmann drüben Stellung genommen hatte. Sie starrte in das Zimmer hinein.

Draußen wußte sie alles auswendig. So wie Gesicht und Inhalt ihrer drei Gegenüberhäuser kannte sie fast die ganze kleine Stadt.

Aber auch hier drinnen, im Wohnzimmer ihrer Eltern, wußte sie alles auswendig. Es war ein großer Raum und dafür sehr niedrig. An der Hauptwand, vor der gelbgrauen Tapete, stand das mächtige Sofa. Drüber, in einer Gruppe geordnet, Photographien aller Deubens und Osterroths, die nach Erfindung der Photographie geboren waren und zu Herrn Oberamtmann Deuben und Frau geborenen Osterroth in einem Zärtlichkeits- oder Respektsverhältnis gestanden hatten. Die Rahmen dazu waren ohne Ausnahme oval und schwarz und gleich groß. Nur in der Mitte prangte ein großes, viereckiges Bild, auch eine Photographie, eingerahmt von einem grauen, mit Goldpressung versehenen Passepartout und brauner Leiste. Es stellte Sabine und Leopold von Zeuthern als Brautpaar dar.

Sabine konnte den Anblick dieses Bildes kaum ertragen. Ihre Bitten, es fortzunehmen, wurden mit Erstaunen von ihren Eltern gehört.

„Ih, das hat da immer gehangen!“ sagte der Oberamtmann. Das war eine Ablehnung.

Und so sah Sabine jeden Tag ihre siebzehn Jahre vor sich.

Wie schön sie damals gewesen war! Sie sah es selbst. Jetzt kam sie sich alt und verblüht vor, mit ihren Sechsundzwanzig zwar nicht, aber mit dem, was sie alles erlebt und erlitten hatte. Jeden Tag sagte ihr dies unselige Bild mit vernichtender Klarheit und Schonungslosigkeit: du hast nur geheiratet, weil es deinen siebzehn Jahren schmeichelte, schon Frau zu heißen, weil es dich reizte, so bald hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen, weil es so hübsch war, einen altadeligen Namen zu bekommen, weil ein heißer Drang nach Ereignissen, nach Wechsel, nach Bewegung dich hinweglockte von dem stillen väterlichen Gut, und endlich, weil du dich geliebt glaubtest, während er vielleicht nur deine Schönheit, Jugend und Unschuld mit in Kauf nahm als reizvolle Zugabe zu den zweimalhundertfünfzigtausend Mark, die Tante Sabine Osterroth dir hinterlassen hat.

Ob es wohl von hundert Frauen nicht achtzig ebenso trifft, daß sie ihr ganzes Leben verantwortlich tragen müssen, was sie in ihrer unverantwortlichen, blind zutappenden Jugend auf sich nahmen?

Sabine fragte sich das immer und beantwortete sich das immer mit einem resignierten „Gewiß“.

Aber wenn ein Unglück allgemein ist, trifft es darum den einzelnen geringer?

Ich werde dies Bild einmal heimlich fortnehmen, dachte Sabine. Ich lasse die Kinder photographieren und ersetze damit alles. Passepartout und Rahmenleiste können bleiben. So sage ich dann zu den Eltern, ich habe sie überraschen wollen.

Dieser Vorsatz belebte Sabine ein wenig.

Sie horchte, ob die Eltern noch nicht zum Kaffee kämen. Alles stand fertig auf dem Sofatisch.

Nichts rührte sich. Dann war es auch noch nicht halb Vier. Denn die Eltern waren pünktlich wie eine Uhr.

Wie lang die Tage schienen.

Ob die Bewohner von Mühlau es nicht empfänden? Ob sie nicht verzweifelten in der kleinlichen Monotonie ihres Daseins? Aber freilich, die Mühlauer kannten nichts anderes als ihr Städtchen und die kleinen Wichtigkeiten ihres Philistertums. Und wenn sie doch etwas anderes kannten – denn auch in Mühlau gab es schließlich Leute, welche reisten oder zeitweise in andern Städten oder Gegenden gelebt hatten, dann litten sie doch nicht so wie Sabine. Sie besaßen ein Glück oder eine Arbeit, worin sie so reich waren, daß sie nichts entbehrten, oder vielleicht ein Unglück oder eine Sorge, die ihre Tage und Nächte erfüllte.

Wie Sabine sich nach dem Leben zurücksehnte! Verzehrend! Die Vergnügungen in der Gesellschaft, das Gefeiertwerden in der großen Welt, Tanz, schöne Kleider, viel Gastlichkeit im eigenen Haus – das alles lernte sie eigentlich nur in den ersten vier Jahren ihrer Ehe kennen. Seit Zeuthern aus dem Staatsdienst geschieden war, schied er sich auch von der Gesellschaft. Doch hatte Sabine sich nach dem bunten Treiben nicht sehr zurückgesehnt. Das vielfach Einengende in solchem Verkehr, wo es doch immer Höhergestellte giebt, vor denen man sich ein wenig zu bücken hat, ward von ihr deutlich empfunden. Sich und ihren Sympathien Zwang anzuthun, war nie ihre Sache gewesen.

Aber die Weltstadt hatte sie genossen. Mit allen Organen nahm sie das auf, was Berlin ihr bot. Das Selbständige, das von allen Rücksichten Losgelöste, sie empfand es wie eine königliche Freiheit. Auf der Straße wandern und von tausend Tönen fremden Lebens sich umflutet fühlen, vor den Läden stehen und tausend schöne Dinge sehen, die Phantasie und Geschmack anregten, das liebte sie! Fremde Menschen, fremde Gesichter auf den Gassen, im Theater. Ueberall selbst ein fremder Mensch und ein fremdes Gesicht für die andern. Kein Nachbar, der beobachtet und im Beobachten zugleich richtet! Kein Gesetz, warum man zu dieser Stunde nicht jenes darf! Und bei jedem Umzug in eine andere Wohnung neue Räume, die Wechsel der intimen Umgebung brachten, ein neues Straßenbild.

Veränderung und Freiheit! –

Auf dem Tisch gab es ein kleines Geräusch. Der Deckel des Theekessels hob und senkte sich, von der Gewalt des Dampfes bewegt. Sabine trat hinzu und goß noch einmal auf. Herr und Frau Oberamtmann Deuben tranken nur getrichterten Kaffee, zu welchem die Oberamtmännin immer selbst die Beutel strickte, die vierundzwanzig Stunden vor dem ersten Gebrauch in dünnen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0294.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2020)