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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

grenzenlose Sehnsucht, die nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie will.

Mit geschlossenen Augen gab Sabine sich ihrer schmerzlich schönen Empfindung hin, horchte auf die fernen Lerchenstimmen und fühlte den wehenden Blütenduft auf ihrem Angesicht.

Da nahte ein Schritt. Dumpf nur klang er vom weichen Sandboden, dennoch hörte ihn Sabine. Sie riß die Augen auf. Was sie seit Tagen angestrebt hatte, was sich ihr naturgemäß deshalb erfüllen mußte, begab sich nun: Achim von Körlegg kam heran.

Und dennoch, obgleich sie sich immer gesagt hatte, daß sie ihn notwendig so eines Tages treffen müsse, obgleich ja dies ihr einziger Zweck gewesen, dennoch erschrak sie wie vor einer nie geahnten Zufälligkeit. Ein schamhaftes Empfinden trieb ihr alles Blut ins Gesicht. Wenn er ahnte, daß ich eigentlich getrachtet habe, ihm in den Weg zu kommen! dachte sie zitternd.

Er hatte sie erkannt, auch er errötete stark.

Daß er mit einem höflichen Gruß vorübergehen könne, fiel ihr gar nicht ein. Auch ihm schien das gar nicht einzufallen.

Grüßend trat er heran. „Darf ich fragen, gnädige Frau, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht? Darf ich es?“ fragte er mit etwas heiserer Stimme.

„Ich habe getrachtet, gehofft, Ihnen einmal zu begegnen,“ sprach Sabine, unfähig sich zu bezwingen, ihre Gedanken zu verbergen. Sie deutete mit der Hand auf den Platz, den die lange Bank reichlich für mehr als noch eine Person neben Sabine ließ.

Er verbeugte sich ernst und setzte sich. Dann schwiegen sie.

Die Sonne brütete über der dürftigen Anpflanzung. Die Düfte stiegen. Alles war still. Weit und breit kein Mensch.

„Er sieht wohl aus,“ dachte Sabine, „frischer als damals. Die Reise hat ihm gut gethan.“

„Demnach,“ begann Achim endlich das Gespräch, an ihre Worte anknüpfend, „haben gnädige Frau mir irgend etwas zu sagen? Oder kann ich Ihnen einen Dienst leisten? Es giebt keinen, für den ich nicht mit Gut und Leben zur Verfügung stände!“

Sabine war von dem brennenden Verlangen beherrscht, zu wissen, alles zu wissen, was er denke und empfinde.

Sie sah ihn begierig an. „Hatten Sie schon erfahren, daß ich hier lebe? Sie schienen gar nicht überrascht – neulich, als wir uns auf dem Markt begegneten.“

„Ja!“

„Wann? Wie?“ fragte sie drängend.

Sie hatte den linken Arm, er den rechten auf die Banklehne gestützt. So saßen sie, einander zugewandt, von weitem anzusehen wie zwei gute Freunde, die miteinander plaudern.

„Gleich am dritten Tag, durch Kameraden,“ erzählte er. „Ich that die übliche Frage nach den Familien, bei denen man verkehren kann, nach den Besuchen, die ratsam sind zu machen. Man zählte neben den Mühlauer Honoratioren auch die Gutsbesitzer der Gegend auf, darunter Herrn Reinald Deuben auf Heinsdorf. Noch ehe mein Gedächtnis mir klargestellt, wo ich den Namen schon einmal gehört habe – denn Ihr Familienname, meine gnädige Frau, hatte mich nicht besonders beschäftigt, doch las ich ihn einmal, ich glaube bei der Todesanzeige in den Blättern – ehe ich noch recht nachdenken konnte, stritten schon die Kameraden, ob ein Verkehr zwischen mir und Deuben möglich sei, über den militärisch unumgänglichen hinaus, der daraus resultiert, daß Ihr Herr Bruder Reserveoffizier unseres Regiments ist. Aus diesem Streit erfuhr ich, daß Sie hier leben.“

Mit gesenkten Lidern hatte sie zugehört. Nun schlug sie plötzlich die Augen auf. Eine sonderbare Empfindung durchzuckte ihn; ihm war, als erschrecke er vor diesen brennenden Blicken.

Und während der langen Zeit, die er in der großen, freien Welt gelebt, hatte er geglaubt, mit diesen Augen innerlich ganz fertig geworden zu sein.

„Und da war Ihnen Ihr neues Kommando und Mühlau und alles vergällt?“ fragte sie.

Sie wollte hören, daß er litt. Sie wollte eine Mission an ihm haben, die, ihm seine Ruhe wiederzugeben, seine Gedanken zu erheitern.

„Nein,“ sprach er und sah sie frei und fest an. „Schließen Sie aus diesem Nein nicht, daß ich leichter über alles Vergangene denke als vor einem Jahr, wo wir uns am Grabe Ihres Gatten begegneten. Aber ich habe zehn Monate lang in Amerika gelebt. Das will was heißen. Zumal will es heißen, daß es keinen Menschen giebt, der so starr, so glatt, so unzugänglich ist, daß die Ansichten und Einflüsse seiner Umgebung nicht an ihm abfärbten. Ich bin frischer und unbefangener geworden. Oder ich komme mir wenigstens so vor. Ich bilde mir ein, den Ueberschuß von Schwere und Gefühl, an dem wir alle leiden, doch ein bißchen beschnitten zu haben. Ja, es ist und bleibt so: ich habe einen Mann, der Gatte und Vater war, im Duell erschossen. Aber ebenso ist und bleibt es wahr, daß ich hierfür nicht der Verantwortliche bin. Weder im allgemeinen noch im speziellen. Mit Ernst, mit Trauer darf ich an das Geschehene denken. Nicht aber mit grüblerischen Empfindungen, die meine Kraft zerstören müßten. Ich bin ein Mann und ein Soldat. Die Zähne zusammen! Weiter! Und nicht zurückgesehen. Das ist mein Vorsatz!“

„Und mit solchem brauchte es Sie allerdings nicht weiter aufzuregen, daß Sie mich hier finden, daß mein Bruder Ihr Kamerad ist“, rief sie bitter. Er sah sie in schmerzlichem Staunen an.

„So wünschten Sie, daß ich in Erinnerung an das Ereignis für immer ein bedrückter Mann und innerlich unfrei bliebe?“ fragte er leise.

Sie erglühte. Sie wußte nicht klar, was sie wollte und wünschte. Nur beschäftigen sollte er sich in seinen Gedanken mit ihr und ihrem Geschick! Und wenn er unglücklich, gequält des Geschehenen gedachte, so war das doch immer eine Beschäftigung mit ihr – – Aber dennoch sprach sie reuevoll: „Vergeben Sie mir.“

„Die Lage,“ fuhr er fort, „ist immerhin seltsam, wenn sie mich auch nicht aufregt und nicht unsicher machen darf. Ihre Eltern, gnädige Frau, höre ich, leben ziemlich zurückgezogen, ebenso Sie selbst. Ihr Bruder und ich werden keine Intimität miteinander suchen, bei den unvermeidlichen Begegnungen wird ihm und mir der Takt nicht fehlen – dieser alles vermittelnde, alles ausgleichende, alles zudeckende Takt, der in uns Offizieren sozusagen schon mechanisch funktioniert. Und sollten Sie, meine gnädige Frau, im Winter, wie ich herzlich hoffe, wieder in der Gesellschaft erscheinen, so dürfen Sie sicher sein, daß ich immer einen Grund finden werde, abzusagen und Ihnen eine Begegnung mit mir zu ersparen.“

Sie hörte aus seiner Rede vor allen Dingen dies eine heraus, daß er nicht daran dachte, sich versetzen zu lassen. Sie atmete befriedigt und erleichtert auf. Als sie sinnend schwieg, fragte er, der ihre ersten Worte nicht vergessen hatte: „Sie hatten danach getrachtet, gnädige Frau, mich einmal zu treffen. Darf ich nun erfahren, was Sie von mir wünschen?“

Eine plötzliche Verlegenheit überfiel sie. Mit einem Male begriff sie, daß ihr Vorsatz, diesem Manne so schlankweg gestehen zu wollen, ihre Ehe sei unglücklich gewesen, ein Unsinn, eine unweibliche Thorheit war. Wie hatte sie überhaupt nur eine Sekunde lang dergleichen denken können!

Nach einer kurzen Pause sagte sie hastig: „Alles, was Sie eben zu mir sprachen, – das war’s, was ich zu wissen, zu besprechen wünschte. Ich war sehr beunruhigt, in dem fortwährenden Gedanken, daß Ihnen die Situation lästig sei. Ich glaubte, sie werde klarer, ruhiger, wenn wir …. wenn wir einmal ….“

„Sie haben recht gehabt, meine gnädige Frau,“ gab er herzlich zu. „Es ist mir in der That eine Beruhigung gewesen, Ihnen mitteilen zu dürfen, wie ich denke und daß ich meinen hiesigen Aufenthalt nicht als ein so tragisches Mißgeschick ansehe, das mir jede Minute des Daseins vergällt. Ich hatte in der That gefürchtet, daß Sie mit dieser Vorstellung an mich denken könnten.“

„Sie haben nachgedacht, was ich ….“ rief Sabine und verstummte erschreckt. Etwas ganz Unbedachtes, sehr Impulsives hatte von ihren Lippen gewollt.

Auch er erschrak. Sie vermieden es, sich anzusehen. Sie begriffen, daß sie sich eigentlich gestanden hatten, wie ihre Gedanken unausgesetzt miteinander beschäftigt gewesen.

Mit veränderter Stimme, hörbar tief bewegt, auf den sandigen Weg niederschauend, in den er mit seiner Säbelscheidenspitze Striche grub, fragte Achim: „Und darf ich wissen, wie sich Ihr Leben gestaltet hat?“

Sie schwieg, mit sich kämpfend. Antworten hieß hier gleich: zu viel sagen!

„Halten Sie mich nicht für zudringlich,“ fuhr er fort, „aber

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0326.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)