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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ich meine, Ihr Leben geht mich doch sehr viel an. Ein verhängnisvolles Geschick entfernt uns ganz und gar voneinander. Und eben dieses Geschick verbindet uns in seltsamer Weise. Gleichgültig kann mir Ihr Leben, das Ihrer Kinder nicht sein, niemals!“

Sie nickte vor sich hin und murmelte: „Nein, nein – Gleichgültigkeit – – das ist unmöglich.“

„Sie leben bei Ihren Eltern,“ sprach er, „wenn es denn sein mußte, daß Sie Ihre Selbständigkeit aufzugeben gezwungen waren, so war die Rückkehr in das Elternhaus gewiß die beste, die glücklichste Form.“

„Glauben Sie?“ rief sie bitter. „Ich meine, selbständige, redliche Arbeit, eine Existenz, darin ich Herrin meines Willens blieb – das wäre die beste, die glücklichste Form gewesen.“

„Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern ist kein gutes?“ fragte er entsetzt.

„O ja – das beste,“ sprach sie mit steigender Leidenschaft, „mißverstehen Sie mich nicht! Mein Vater ist die Güte und Treue in Person, meine Mutter quält sich, wenn sie denkt, ich sei nicht zufrieden, beide beten meine Kinder an. Ich habe nur den einen Wunsch, das friedliche Alter meines Vaters, meiner Mutter nicht zu trüben.“

Es riß sie fort zu sprechen. Endlich, endlich konnte all das verschwiegene Leid herausgeschrieen werden. Was sie keinem Menschen auf der Welt sagen durfte, was ihr Stolz gegen jedermann geleugnet haben würde, diesem einen Mann, der ihr so wunderlich nahe und so unerreichbar fern stand, diesem konnte sie sich offenbaren. Wie von selbst lag es wie tiefes Geheimnis über allem, was sich zwischen ihnen begab.

„Sie hören es, wir lieben uns innig, meine Eltern und ich. Und dennoch! Ich lebe ihr Leben – nicht mein eigenes! Und ich bin ein Mensch, der nur in aufbäumender Qual erträgt, was seiner Individualität widerstrebt. Ich beneide die Weiber, die sich duldend fügen und schmiegen können. Ich kann es nicht. Lebe ich hier denn überhaupt? Alles giebt es nur in meiner Erinnerung oder in meiner Phantasie: Glück, Ereignisse, Leben. Und wie mich diese kleine, enge Stille rund um mich her drückt! Da kommt man auf verrückte Ideen. Man träumt in Unwahrscheinlichkeiten, anstatt mutig die Wirklichkeit anzusehen. Meine Eltern – ja die sitzen still am Winterherd – da kann man Seelenfrieden haben und vergißt vielleicht, wie es war, da man noch im Sturm stand. Ich soll mit an diesem Herde sitzen. Ich! Schon – – schon, und soll begreifen, daß alles aus ist, die ich kaum anfing! O nein, es wäre besser gewesen, sie hätten mich, wie ich wollte, um mein Brot kämpfen lassen. Wenn es auch nur dürftig gewesen wäre – ich hätte einen Inhalt für meine Tage gehabt!“

Achim war sehr erschüttert. Das flammende Wesen der Frau riß ihn fort. Sie war also doch unglücklich! Sie litt und bäumte sich vergebens auf. „Ihre Kinder!“ rief er eindringlich und faßte nach ihrer Hand, sie beruhigend zwischen seine beiden Hände nehmend.

Ein melancholisches Lächeln verklärte ihr Angesicht.

„Ja, Milly und Leo,“ sprach sie, „aber sehen Sie – ich muß es sagen, ich weiß, Sie verstehen mich gewiß nicht falsch: was kleine Kinder für eine Mutter sind, ja, was große Kinder sind, das wird nie richtig gemessen. Darüber giebt es so viel schöne Redensarten, daß keiner mehr den Mut hat, die nüchterne Wahrheit zu sagen. Wenn mir meine Kinder stürben, ich glaube, ich stürbe vor Verzweiflung ihnen nach. Und so empfindet jede echte Mutter. Aber Kindern giebt man. Die Kinder ernährt man; mit den besten Kräften der eigenen Seele nährt man gewissenhaft ihre Seele. Sie stehen nie, niemals auf einer Stufe mit uns. Erst sind sie wie holde Pflanzen, die man hegt und pflegt. Dann süßes Spielzeug, erheiternder Sonnenschein. Dann Gegenstand der Liebe und Sorge, und das bleiben sie immer! Sie lohnen mit Dankbarkeit – sie geben Liebe wieder. Ja – aber die aufschauende Liebe der Ehrfurcht! Die Dankbarkeit der Pflicht. Es ist keine Freiheit und keine Gleichheit und keine Wahl in dieser Liebe. Und jeder Mensch und jedes Weib braucht ein gleichgeordnetes Wesen, von dem man zurückempfängt, was man nach anderer Richtung ausgiebt. Ohne diesen Ausgleich verzehren wir unsere besten Kräfte mehr und rascher, als das Gemüt erträgt, ohne Schaden zu leiden. Oh, darüber habe ich schon so viel nachgedacht – sehr viel!“

Er fühlte, daß sie Wahrheiten sprach, die sie in schwersten Kämpfen erworben hatte. Er hörte, daß ihre Seele darbte, daß eine laute, gewaltige Stimme in ihr nach Liebe, Glück, nach einem verstehenden Gefährten, nach Selbständigkeit schrie. Er ließ ihre Hand fahren. Sein Gesicht war bleich, seine Stimme tonlos.

„Und ich habe Ihnen alles geraubt,“ sprach er. Sie sprang auf. Das lodernde Feuer in ihren Augen erlosch. Sie atmete schwer und griff, um sich zu stützen, nach der Banklehne. Geängstigt stand er vor ihr und sah, daß sie nach Worten suchte.

Jetzt war der Augenblick gekommen – jetzt durfte, mußte sie ihm sagen: Du hast mir nichts geraubt. So arm war ich schon in meiner Ehe. Nur die Form meines Unglücks hat sich geändert.

Aber sie konnte nicht. Sie suchte sich zu fassen, es dauerte lange.

„Hören Sie nicht auf mich,“ sagte sie endlich mit Anstrengung und einem erkünstelten Lächeln. „Mein Temperament riß mich einmal wieder fort. Ich habe es ja gut vor Tausenden. Ich habe keine Not mit meinen Kindern. Das ist viel. Alle Menschen sagen es – dafür muß man dankbar sein.“

Nun aber war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Er griff nach ihrer Hand und preßte sie heftig.

„Sie leiden!“ rief er, „ich habe es begriffen. Sie, die für strahlendes Glück geboren scheinen. Von diesem Augenblicke an werde ich keine Ruhe mehr haben, bis ich höre, die Wunden sind geheilt, ein neues Glück erfüllt Sie ganz!“

Sie ließ ihm ihre Hand und lächelte ihn schmerzlich an.

„Sorgen Sie sich nicht um mich,“ bat sie, „ich bin allein schuld, wenn es mir nicht gelingt, zufrieden zu werden. Ich klage mich an, ganz einzig nur mich. Ich bin so unglücklich veranlagt, das ist alles! Egoisten haben es gut. Die ganz Selbstlosen auch. Beide befinden sich in einem zweifellosen Zustand. Aber ich schwanke so hin und her: bald verlange ich Unerhörtes an Glück und Gunst vom Schicksal für mich. Bald habe ich nur das eine Verlangen, mich für die Meinen aufzuopfern. So komme ich aus den Kämpfen nicht heraus. Bald bin ich unglücklich für mich, bald für andere. Ob ich mit solcher Veranlagung nun in Berlin oder in Mühlau lebe – nicht wahr, das ist gleich.“

Sie wollte mit einem Scherz schließen. Aber ihre Stimme brach dabei und sie wandte schnell das Haupt ab.

„Gehen Sie,“ flüsterte sie, „es ist besser.“

„Ich gehe,“ sprach er, „ich gehe unglücklicher als ich kam und doch reicher. Sie haben mir Anteil gegeben an Ihrem Leiden. Und wenn uns der Zufall wieder einmal zusammenführt, fern von rohen und unverständigen Beobachtern – darf ich mir dann die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht?“

Sabine nickte stumm. Er nahm ihre Hand und küßte sie dankbar und ehrfurchtsvoll. Dann ging er.

Sabine setzte sich wieder auf die Bank und brach in Thränen aus.

Rings um sie blieb alles still. Allmählich trocknete sie die Thränen und sah ängstlich umher, ob kein Neugieriger ihr Weinen beobachtet habe. Kein Mensch weit und breit.

Durch die karg belaubten Büsche der kümmerlichen Anlagen schimmerten gradeaus die Häuser von Mühlau. Eine Nebenstraße wandte ihre Rückseite dem „Bürgerpark“ zu, da lehnten sich an rote Wände hölzerne kleine Stallanbauten und schmale Nutzgärten zogen sich bis an die Grenze des Parkes. Aus stumpfen kleinen Schornsteinen, die aus Ziegeldächern aufragten, wölkte sich feiner, grauweißer Rauch in die trockene Luft. Unveränderlich, in lachendem Blau stand der Himmel und gab, wo er als Wand hinter Mühlau prangte, dem rotgrauen Kirchturm und seinem grünen Kupferspitzdach den farbenprächtigsten Hintergrund.

Sabine stand auf und ging raschen Schrittes stadtwärts. Ihr war, nachdem sie die letzte Thräne getrocknet hatte, unaussprechlich leicht, fast glücklich zu Mut.

Ihr war, als habe sie die letzten zehn Monate mit Warten zugebracht. Der heutige Tag hatte es ihr erfüllt.

Die Stille war vergangen und das Leben war gekommen.

Endlich ein Erlebnis! Endlich eine Stunde, die durchkostet zu haben sich lohnte, die man im Geist wieder und wieder durchdenken konnte. Endlich ein Mensch, der von ihr wußte, sie verstand, um sie litt, dessen Herz mit heißen Wünschen Glück in ihr Dasein ersehnte, der alles, alles für sie thun würde, der für sie die Sterne vom Himmel herunterholen möchte, um sie ihr zu bringen. Ein Mensch, der sich innerlich gezwungen fühlte, an sie zu denken, aber nicht in jenem Zwang, den die Pflicht aufdrängt!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0327.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2020)