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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Aber seltsamerweise war es gerade dieses so besonders gemusterte Kleid der Oberamtmännin, was in Onkel Fritz’ Gedächtnis von der ganzen Familie Deuben haften geblieben war.

Fast betroffen blieb er denn auch einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Dann wandte er mit einer kurzen Bewegung sein Haupt nach Susanne um und sah sie an. Susanne blieb aber gefaßt. Sie nannten ja unter sich Sabinens Mutter stets die „Treffasdame“, damit Onkel Fritz begreife, wer gemeint sei.

Man war sehr steif miteinander. Der Oberamtmann besaß eine natürliche, wuchtige Würde in seiner Art und Erscheinung und sprach wie ein Souverän. Onkel Fritz hatte eine feine, stille, etwas weltmüde Würde und in Wort und Gebärde die Gewohnheit der völligen Unabhängigkeit.

Das ging schlecht zusammen. Das waren zwei Größen, davon keine die andere innerlich als solche anerkannte.

Die Oberamtmännin sprach ausschließlich Familiengeschichte und stellte alle Osterroths fest, bis auf die gemeinsame Ururgroßmutter, die sie mit Onkel Fritz hatte. Dies langweilte ihn sehr.

Da ihn zu den Eltern keine Sympathie zog, erschien ihm die schöne, interessante Tochter um so anteilswürdiger.

Am andern Morgen früh wollte man reisen. So gewannen Sabine und Susanne noch einige Minuten für sich, unter dem Vorwand, den Koffer fertig packen zu müssen.

Kaum in Sabinens Stube angelangt, fiel Susanne der Freundin um den Hals.

„Ich habe ‚ihn‘ kennengelernt! Onkel Fritz auch!“

„Wo – um Gotteswillen, wo . . .?“

„Die beiden Offiziere, von denen wir bei Tisch erzählten! Sie waren von der hiesigen Garnison! Der eine hieß Bläser, der andere war Er!“

Sabine bebte am ganzen Leibe.

„Und Onkel Fritz?“

„Verstand natürlich seinen Namen falsch. Und als Körlegg sagte, er käme auch nach Italien, erhoffte Onkel Fritz ein Wiedersehn, wie man so thut.“

Susanne sah die Freundin durchbohrend an.

Aber Sabine fühlte nur eine große Erleichterung. Also war nichts verdorben, nichts gestört. Gottlob!

„Du hast dich mit ihm verabredet,“ fragte Susanne ernst.

„Ja! er wird uns treffen. Wie zufällig. In Verona oder Mailand oder Venedig. Ich werde ihm immer unsere Adresse telegraphieren,“ sagte Sabine.

„Und was soll daraus werden?“ fragte Susanne.

„Das Glück – das Glück!“ flüsterte Sabine. Ihre Augen schlossen sich halb, ihre Lippen öffneten sich, ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Berauschte.

„Sabine –“ rief das junge Mädchen und fiel ihr wieder um den Hals. „Besinne dich doch! Es kann ja nicht sein!“

„Warum kann es nicht sein? Zwischen uns steht keine Schuld. Nur Vorurteile. Die lassen sich besiegen. Ah – Susanne – wenn du wüßtest, wie das ist, zu lieben, mit den Erfahrungen des Unglücks! Gerade in der elenden Ehe erwachte mir das glühende Verständnis, welch eine Himmelswonne es sein muß, im Gatten zugleich den Geliebten zu besitzen.“

Susanne erschrak vor diesem verzehrenden Ausdruck im Ton, in den Augen der andern. Die qualvolle Unruhe, in welcher sie selbst sich seit der Begegnung mit Achim befand, wuchs und wuchs.

„Ich will niemals lieben, wenn Liebe etwas so Blindes, Tolles ist,“ sagte sie leise.

„Du hast ihn doch gesehen! Begreifst du denn nicht?!“ fragte Sabine in triumphierendem Stolz auf ihre Liebeswahl.

Susanne wurde ganz verwirrt. Ja, sie hatte ihn gesehen und ihn angestaunt und sich gefragt, wo seine Zauber seien. Und sie dachte seitdem immerfort darüber nach und vergegenwärtigte sich in jeder Minute sein Angesicht und sein Wesen. Aber auf diese Frage zu antworten, vermochte sie nicht.

„Ich verstehe nichts von Männern,“ sagte sie zögernd.

Und Sabine lachte glücklich und küßte sie zärtlich.

Am andern Morgen machte Sabine eine Entdeckung an sich selbst. Die ganze Freude an der Reise versank mit einem Male, und der Abschied von ihren Kindern, von ihren Eltern wurde ihr sehr schwer. Sie stellte sich plötzlich vor, daß die Kleinen inzwischen erkranken oder verunglücken könnten, daß ihr alter Vater inzwischen sterben, ihre Mutter ihrer Pflege und Hilfe bedürftig sein könne. Sie machte sich Vorwürfe, hinausgestrebt zu haben; kam sich lieblos vor, weil ihr Sehnen aus dieser ihr angestammten Welt hinausging. Mit Thränen in den Augen beschwor sie ihre Mama, ihr täglich eine Postkarte zu schicken, sonst habe sie keine Ruhe. Reinald, der zum Abschied hereingeritten kam, nahm sie ebenfalls das Versprechen ab, ihr oft von ihm und Martha Nachricht zu geben, und sie ließ Martha so viele tausendmal grüßen, daß Reinald ganz beglückt war, seine Braut von seiner Schwester so geliebt zu sehen.

Im Coupé trocknete Sabine ihre Thränen und sagte, mit dem Versuch zu lächeln und Onkel Fritz nicht mit einer Stimmung lästig zu fallen, die er am Ende als Sentimentalität auffassen könnte: „Ich wundere mich über mich selbst. All die lange, schwere Zeit hindurch habe ich fast nur noch das Schwierige meiner Lage gefühlt und geglaubt, ein zeitweiliges Herauskommen aus derselben sei eine Riesenfreude. Und nun sitz’ ich und weine. Sie müssen mich für undankbar halten, Onkel Fritz. Aber im Augenblick kommt mir’s doch so vor, als könnten die Meinen nicht ohne mich, ich nicht ohne die Meinen auch nur einen Tag fertig werden.“

Onkel Fritz sah sie an.

Er lächelte und schwieg.

Er war überhaupt schweigsam. Aber Sabine fühlte schnell, daß es nicht die Stumpfheit der Interesselosigkeit war. Er beobachtete fortwährend.

„Es scheint, er studiert mich,“ sagte sie schon am ersten Abend zu Susanne. „Das ist mir sehr ungemütlich. Du schriebst doch immer: er schwebe über Dingen und Menschen und merke sich weder Namen, noch Daten, noch Verhältnisse.“

„Ja – das Aeußerliche ist ihm egal. Das geht so an ihm vorbei. Aber wenn ihn ein Mensch interessiert! Er ist ganz weg in dich, das merkt man gleich.“

Da tauchte in Sabinens Kopf der Gedanke auf, daß ihr am Ende in Onkel Fritz ein Bundesgenosse erstehen könnte.

Er selbst, so ging die Sage unter seinen Neffen und Nichten, sollte in seiner Jugend an einem romantischen Schicksal gescheitert sein. Er hatte die Frau eines Freundes geliebt. Sie ließ sich von ihrem Gatten scheiden. Aber ihre Eltern kämpften so erbittert gegen ihre Wiedervermählung, daß die gewonnene Freiheit der jungen Frau nichts nützte. In Leid und Kämpfen rieb sie sich auf, und als endlich eine Vereinigung in sicherer Nähe stand, brach sie zusammen. An ihrem Sterbebett sollte Onkel Fritz ihr geschworen haben, nie zu heiraten. Sie büßte ihre Schuld mit dem Tode; er wollte sie in einem Leben voll Entsagung und Gutthaten büßen.

An dieses Gerücht dachte Sabine. Vielleicht war alles in Wirklichkeit viel einfacher gewesen. Alle Ereignisse haben einen andern Gehalt, als ihr Aussehen erkennen läßt.

Meist sind die Linien einfacher und der seelische Inhalt viel verworrener und schwerer.

Weiß Gott, dachte Sabine, es ist, als ob sich mit dem Kostüm auch die Dramen des Menschenlebens geändert haben. Jetzt klirren keine Rüstungen und Ritterschwerter mehr. Es zittern nur die Nerven. Ach, das sind die besseren Tragödien, die in fünf Akten vorüberrasen wie ein Gewitter! Aber dies stille, langsame, versteckte Leiden und Kämpfen – das ist fürchterlich!

Fortan gab sie sich freier dem alten Herrn gegenüber. Sie wollte wohl studiert sein, aber auch ihrerseits ihn studieren.

Mit Erstaunen bemerkte Susanne, daß sich zwischen den beiden bald so etwas herstellte wie ein besonderes, geheimes Einvernehmen, von welchem sie, des alten Herrn Liebling, bisher ausgeschlossen schien.

Sabinen kann doch keiner widerstehen, dachte sie, halb stolz auf die Freundin, halb neidvoll.

Sie wußte nicht, daß es nur das unwillkürliche Verstehen war von zweien, die genau wissen, was Liebe, Leid und Leben ist. Eine Wissenschaft, von welcher ihre unberührte Jugend sie ausschloß.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0395.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)