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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ärgerlich wird, wenn ihm der plumpe Händedruck eines andern diese Ueberzeugung unversehens bestätigt. Merkwürdigerweise machte sich der Rückschlag zuerst bemerkbar, als Fräulein Hoven auch den Heimatsstolz ihrer gutmütigen Wirtin angriff. Die hauswirtschaftlichen Belehrungen der überklugen Dame hatte Frau Swarteborn mit Ergebenheit hingenommen; als aber jene auch die geschmacklose Ueberladung einer Kirche mit einigen Worten tadelte, die unmittelbar aus ihrem Reisehandbuch stammten und von keinem Kenner angezweifelt waren, da ertrug es Frau Swarteborn nicht, ein Bauwerk beleidigt zu sehen, in dem sie selber konfirmiert und getraut worden war. „Wissen Sie, meine Liebe,“ sagte sie in einem Tone, den Gertrud noch nie von ihr gehört hatte, „das ist eben Geschmackssache. Der Geschmack ist verschieden. Wir waren ja wohl damals beide noch nicht auf der Welt, der Baumeister konnte Sie nicht um Rat fragen. Und wenn er es gekonnt hätte, wer weiß, ob er sich nach Ihnen gerichtet hätte?!“

Fräulein Hoven war so überrascht, daß sie gar keine Antwort fand und einstweilen willig zugriff, als Gertrud das Gespräch auf einen anderen Punkt leitete. Es war ihr zu Mute wie einem Piraten, der so recht sicher und beutefroh hinter einem vermeintlich wehrlosen Kauffahrer herschießt und nun plötzlich sehen muß, wie es auch drüben aus den Luken rot aufblitzt. Verwundert hört er über sich etwas durchs Takelwerk surren und einen dumpfen Knall von drüben her aus dem kleinen weißen Wölkchen – „Nanu!“ ruft er, „die schießen ja auch!“ Und das einseitige Bombardement verwandelt sich in einen niedlichen Artilleriekampf. Anfangs ist der Kauffahrer noch im Nachteil, es fehlt ihm die Uebung und vollends der Mut zum entschlossenen Angriff, er will nur seine Schwäche decken, und es mißlingt ihm zuweilen, aber die Angst selber treibt ihn alsbald, dem andern zuvorzukommen, und der erfahrene Pirat merkt mit einem gewissen ärgerlichen Vergnügen, daß es ernst wird. „Endlich doch einmal etwas anderes als diese billigen Triumphe!“ –

Indem Gertrud die wunderliche Entwicklung der Dinge in Gedanken nochmals durchlebte, lächelte sie fast behaglich, denn sie hoffte jetzt wirklich auf einen Erfolg der „Kur“, und durch diese Hoffnung schimmerte noch eine andere ganz heimlich und verstohlen durch, die sie sich in holder Verwirrung weder zu gestehen noch zu versagen wagte. Hastig fuhr sie sich mit dem Tuch über die erglühenden Wangen. „Ich kann das aber doch nicht so abschicken,“ murmelte sie. „Was schreib’ ich denn noch? Aha –:

‚Wir haben für Ihre Tante das Schlafzimmer eingerichtet, da es ja noch reichlich Raum für einige Möbel mehr bot und sie nur ein Zimmer haben wollte. Ihr Wohnzimmer ist also unbewohnt; ich halte mich viel hier auf, besonders wenn Mama mit Ihrer Tante aus ist, und auch diesen Brief schreibe ich an Ihrem Schreibtisch, mit Ihrem eigenen Stachelschweinfederhalter.‘

Wie dumm sich das nun wieder ausnimmt!“ unterbrach sie sich unzufrieden und blickte wieder, einer Eingebung harrend, in den Garten hinaus, wo auf den höchsten Zweigen des höchsten ihrer Kirschbäume die Golddrossel sich wiegte und unermüdlich ihr kurzes Lied wiederholte, fünf volle, sonnigklare Töne. „Das hört er so gern,“ flüsterte Gertrud. Noch ein Weilchen lauschte sie nachdenklich, dann wandte sie sich wieder dem Brief zu und schrieb nun gleichmäßig fort, zuweilen tief aufatmend und lächelnd – ein sommerfrohes trauliches Geplauder: von all dem Schönen, das da draußen klang und blühte, von den schönen Büchern, die er ihr vor der Abreise zum Lesen empfohlen, dazwischen angelegentliche Erkundigungen, wie es ihm am neuen Ort ergehe – ob sein Zimmer auch Aussicht ins Grüne habe, und so fort. Erst vor der Unterschrift zauderte sie ein Weilchen überlegend; nun aber merkte sie auch, wie lange sie schon geschrieben hatte, erschrocken und eilig setzte sie hinzu: „Mit herzlichem Gruß Ihre Gertrud S.“, steckte den Brief in sein Couvert und schrieb die Aufschrift, eben als drunten die Hausthür vor den heimkehrenden Damen sich öffnete.

Pünktlich zur bestimmten Stunde am bestimmten Tage kam die Antwort – sie war noch länger als ihr Brief. Ueber die häusliche Lage ging auch er mit einigen Worten des Dankes und der Zuversicht hinweg, ohne die Vorwürfe, die sie wegen ihres kurzen Berichtes erwartet hatte; auch von sich und seiner Arbeit schrieb er wenig, um so mehr von ihr selber; und es war ihr, indem sie den Brief oftmals heimlich las, als klänge ihr daraus auch alles, was sie schreibend empfunden und auszudrücken versucht, wieder entgegen, nur viel reifer und voller – und zwischendurch immer, verhalten und tief, eine große Freude, so mit ihr und zu ihr zu sprechen. Da sie nun zu merken glaubte, daß ihm ihr Brief, wie er eben war, einiges Vergnügen gemacht habe, konnte sie kaum die Tage abwarten, wo sie den zweiten schreiben durfte. Diesmal aber war seine Antwort stückweise von einem Tage zum andern datiert, wie ein Tagebuch; da er alle Tage an sie denke, schrieb er, so müsse sie schon erlauben, daß er in solchem täglichen Zwiegespräch mit ihrem Bilde seine Einsamkeit belebe, ohne ihre Briefe abzuwarten. Sie wußte ihm ihr Einverständnis nicht besser zu bekunden, als indem sie sein Beispiel nachahmte. Dasjenige aber, was eigentlich den Anlaß zu dem Briefwechsel gegeben hatte, schrumpfte in ihren Briefen immer mehr zusammen, wie das Fruchtkäppchen an einem reifenden Apfel, und schließlich erledigte sie es mit einem täglichen vergnügten „Es geht immer besser!“

Hartwig Hoven schien auch damit zufneden zu sein; und übrigens wäre der gewiegteste Chronist ebensowenig wie Gertrud imstande gewesen, einen erschöpfenden Bericht über die merkwürdige Verschiebung zu geben, die sich im Wesen und Verkehr der beiden alten Damen allmählich vollzog.

Bei Frau Marie hatte sich Hartwigs Kurplan zunächst bewährt. Indem sie sich mit wachsendem Bedacht hütete, die Schulmeisterin mit mutlosen Klagen herauszufordern, kam sie überhaupt immer mehr aus der trauerseligen Selbstbetrachtung heraus. Sie verwandte ihren Scharfblick lieber darauf, bei der andern nach schwachen Stellen auszuspähen, um der Kritik mit Kritik zu begegnen oder wohl gar ihr zuvorzukommen. In dieser beständigen Anspannung lebte sie ordentlich auf wie ein alter Seemann, der sehr lange am Lande still gelegen und nun durch ein glückliches Ungefähr doch noch einmal dazu kommt, Salzwasserluft zu atmen und sich mit Wind und Wellen zu messen.

Fast in demselben Maße aber zeigte sich auch bei Fräulein Alma Hoven eine Gegenwirkung, an welche die beiden jugendlichen Kurmeister gar nicht gedacht hatten. Sie war es bisher gewohnt gewesen, mit ihrer Wohlweisheit und Besserwisserei nirgendwo auf Widerspruch zu stoßen; denn als eine wohlhabende und freistehende ältere Dame fand sie stets Leute, die von Beruf oder aus zarter Berechnung darauf eingerichtet waren, ihre Laune mit zielbewußter Ergebenheit schweigend zu ertragen; wer nicht von dieser Art war, ging ihr lieber mit einem frommen Wunsche aus dem Weg. So hatte sie sich ziemlich fest in ihre Unfehlbarkeit hineingeredet. Nun aber sah sie sich plötzlich abgewiesen, ja angegriffen. Das regte sie an, es erhöhte sogar ihre Achtung vor der anfangs unterschätzten Gegnerin. Sie fing an, hinter Frau Mariens selbstanklagender Ergebenheit eine besonders feine weibliche Strategie zu wittern, die mit dem Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit den andern versöhnt und einlullt, um ihn dann um so sicherer an der schwachen Stelle zu fassen. So entlehnten sie die Waffen voneinander, was dem friedlichen Kampf der Geister immer neue und anziehende Züge verlieh. Da sie aber zugleich nach Art kluger und häuslich gesinnter Frauen einander viel Nützliches für Haus und Leben ablernten, so gewann ihr Verkehr einen festen Boden, ja er versprach sich schon zu einer Art Freundschaft auszuwachsen – zu jener Freundschaft, die darauf begründet ist, daß die eine die Vorzüge der andern willig erträgt, weil sie auch deren Fehler zu kennen glaubt und sich allzeit in der Lage weiß, die Beschreibung der Freundin mit den Worten zu eröffnen: „Ach, das ist eine vortreffliche Frau! – Nur ….“

Im angenehmen Gefühl dieser wachsenden Verbindung fingen sie bereits an, inmitten des Kampfes zuweilen einen kleinen Waffenstillstand darauf zu verwenden, daß sie die erprobte Kraft gemeinsam auf einen Dritten richteten und sich die fremde Fehlerhaftigkeit zum Spiegel ihrer Tugenden zurechtschliffen.


4.

Auch Thea Siebold mußte die Waffen der Verbündeten fühlen. Das blonde Fräulein hatte sich seit einigen Wochen ziemlich rar gemacht, ohne daß Gertrud sie vermißte. Eines Tages, ein Stündchen vor Abenddämmern, sprach Thea doch einmal wieder vor. Sie erkundigte sich aber gleich mit einer gewissen Aengstlichkeit, ob Fräulein Hoven da sei, und als Gertrud erwiderte, die Dame lustwandle mit Mama im Garten, trat sie gar nicht ein und beschränkte sich auf ein paar Worte zwischen Thür und Angel.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0447.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2021)