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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wachsen und Blühen, das ich täglich mehrere Male beobachtete, war mir genug. Im August hatte ich das 11. Lebensjahr zurückgelegt, am 15. September verließen meine Eltern Lengweten (im Kreise Ragnit), wo ich geboren bin und die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe.

Mein Vater las in den Wintermonaten Bücher aus der Leihbibliothek. Ich als elfjähriges Kind, das sehr viel Schulaufgaben zu machen hatte, habe nie in die Bücher geschaut, auch wurde es uns nicht erlaubt. Es war auch so lustig, bei der jungen Dienstmagd zu sitzen und deren Märchen und Lieder zu hören …

Meine Eltern waren beide arme Leute, als sie sich heirateten; Mutters Eltern sehr begabt, ihre beiden Brüder außergewöhnlich talentvolle Männer. Beide starben unvermählt in den besten Jahren. Der jüngste Bruder Mutters kam nach dem dänischen Kriege eine Zeit lang in unser Haus. Von ihm habe ich viele Lieder singen gelernt und viele Erinnerungen sind mit ihm verknüpft. Von meinem Vater habe ich das gute Gedächtnis wie die Züge, doch das Talent zum Fabulieren entschieden von Mutter und deren Familie. Mein Großvater mütterlicherseits war beliebt wegen seines urwüchsigen Humors.

Als meine Eltern Lengweten verließen, wußte ich noch nicht, was ich verloren. Die Schule in Titschken, dem neuen Wohnort, hatte mir nichts zu bieten. Kaum war mein Geist geweckt, kaum konnte ich einen halbrichtigen Aufsatz verfassen, mußte mein ganzes geistiges Leben gehemmt werden. Ich werde es nimmer, auch wenn ich hundert Jahre alt werde, verschmerzen, daß ich nicht richtig schreiben und sprechen lernen konnte. Schwester Martha dagegen, welche zweieinhalb Jahre älter denn ich war, beherrscht vollkommen die Rechtschreibung und führt einen brillanten Stil. Ich bin ein Nichtschen gegen Martha. Nun war mein Schulbildungsgang geschlossen, ein Weiteres gab es nicht mehr. Doch, konnte ich den Wissenshunger nicht stillen, gab es draußen Schönes genug zu sehen und zu hören. Meine Phantasie machte aus dem Kleinen sich das Große. Nie bevor ich im Jahre 1895 die Welt kennenlernte, habe ich eine See, eine Düne oder schöne Kunstsachen gesehen. Und doch sah ich alles in meinen Träumen viel schöner, als die Wirklichkeit es mir gezeigt. Daher überrascht mich nichts und imponiert mir nichts. So anmaßend es klingt, es ist aber so …

Die Zahl der Geschwister war auf sieben gestiegen, das kleine Besitztum der Eltern noch nicht halb bezahlt, da kam der grausame Winter 1867 mit seinem mir unvergeßlichen Jammer. Da sah ich die Not, die Landesnot! Schnee und Eis soweit die Blicke gingen, kein Vogel, kein lustiges Klappern der Dreschflegel! – Die Wege voll zerlumpter, frierender Menschen. Meine Eltern beide krank. Das neugeborene Schwesterchen wurde von Martha erzogen. Ich, augenleidend, saß an der Wiege, doch spann ich in dem Winter mein erstes Garn. Den Wocken erhielt ich zu Weihnachten und besitze ihn heute noch …

Und doch, so viel Jammer auch bei uns war, meine Natur ist nie darin stecken geblieben, immer wußte ich die Geschwister und Eltern durch Erzählungen und drollige Einfälle aufzuheitern. –

Im Herbst 1868 wurde ich eingesegnet und stand in der Mädchenreihe der Landgemeinde oben als Nummer eins. Jetzt kam die „Gartenlaube“, die unser geliebter Herr Präzeptor in Lengweten hielt, in unser Haus. Marlitts Geschichten entzückten die jungen Mädchenherzen. Doch wir lasen alles andere auch mit großem Interesse und folgten aufmerksam jeder Schilderung. Ich besaß eine große Vorliebe für die Gutzkowschen Briefe und historischen Sachen. Auch Herman Schmids Geschichten ergötzten mich. Sieben Bände „Gartenlaube“ sind von mir gelesen worden. Es mag wohl gut sein, wenig und Gutes zu genießen; zu viel möchte ich nie, weder geistige noch leibliche Speise haben.

Arm waren und blieben wir, und verhöhnt wurden wir von allen kurzsichtigen Bauern, unter denen wir wie andere Vögel lebten. Mit zwölf Jahren konnte ich Brot backen, melken und alle groben Arbeiten. Spinnen und weben lernte ich ein Jahr darauf. So unter Arbeit und wieder Arbeit verrann die Zeit. Es behagte mir nicht länger zu Hause, ich ging als Wirtschafterin auf einige Stellen, kehrte aber bald zurück aus eigenem Antrieb, da ich mehr sah, wie ich sehen wollte. Ideale sanken und ich stand vor der Wirklichkeit, die mir nicht gefiel. Zum erstenmal lernte ich auch das Ungeheuer, die gesellschaftliche Lüge kennen.

Ich vermählte mich, 20 Jahre alt, mit dem Sohn eines Bauern. Wir waren beide arm, da beide Eltern uns nichts geben konnten. So zogen wir zu meiner Großmutter, welche ein Häuschen und ein kleines Feld hatte, und nahmen dieses in Pacht. Es reichte natürlich nicht zum Leben und mein Mann hat für wenige Pfennige den Tag im Winter gedroschen, ich machte Handarbeiten für die Bauerstöchter. Die Jahre waren unbeschreiblich. Dazu war jede geistige Nahrung fort … Ich lebte ganz weltverloren in der Hütte. Mein Mann verdiente ein Jammergeld. Begegnet Ihnen einmal eine höchst ärmlich gekleidete Landfrau mit einem Tuch um den Kopf, dann denken Sie, so ging Johanna Ambrosius einst. Ich kenne die Schule des leiblichen und mehr noch des geistigen Elends von Grund auf. Und wer Seele von Seele unterscheiden kann, wird auch wissen, daß beides gleich drückt. Nie ist mir damals, noch früher eingefallen, einen Vers zu machen, doch mein Herz hat immer gedichtet. Jede Ruhepause schaute ich in die Weite und suchte die Schönheit der Natur zu meiner Gesellschaft. Ich konnte den ganzen Sonntag Nachmittag auf einem Grabenrand sitzen und in das wogende Feld schauen oder einem Würmchen zusehen, wie es unermüdlich einen Grashalm zu erklettern suchte. Geistige Anregung, Bücher, Zeitungen waren unerreichbare Wünsche. Man meint, ich hatte Bibel und Gesangbuch, auch das nicht. Ein Gesangbuch hatte ich wohl, eine Bibel kostete Geld, und wo sollte ich es hernehmen?

Wir verließen nach dem Tode meiner Großmutter das Dorf und zogen nach Alxnupönen, einem reizend gelegenen Dörfchen hinter Lasdehnen, hart an der Scheschuppe. Daselbst lebten wir noch zweieinhalb Jahre mit Holzfällern zusammen in einem Hause in Armut und Not. Die Natur – es ist nahe an der polnischen Grenze – ist hier besonders schön. Der rauschende von lieblichen Ufern umgebene Fluß war bald mein bester Freund, und manches Bild habe ich damals in die Seele aufgenommen, welches erst so spät zum Ausdrucke kommen sollte.

Endlich gab mein Schwiegervater, der mit seiner Familie mir geistig völlig fremd stand, die Wirtschaft dem ältesten Sohne ab und mein Mann erhielt 500 Thaler. Ich bekam gleichfalls 200 Thaler, da meine Mutter eine Erbschaft gemacht. Mit diesem Gelde kauften wir in Wersmeninken unser 8 Morgen großes Besitztum für 1400 Thaler. Ich war damals sehr magenleidend, abgezehrt zum Skelett. Jetzt hieß es wieder sparen, um die Zinsen und Abgaben zu bestreiten. Doch ich hatte mein eigen Land, mein eigen Haus! Wer kann mir nachfühlen, wenn ich naßgeregnet vom Felde kam und ein Stück trocken Schwarzbrot mit Milch auf der Schwelle des Hauses verzehrte? Wer weiß von dem stillen Glück, wenn ich nach meinen saubergehaltenen netten Kindern ausschaute und ihr Vesperbrot zurechtlegte? Meine lieben guten Kinder waren mir alles und sind mir alles. –

Es war im Oktober 1884. Noch immer hatte ich kein Buch außer Kalender und Bibel, welche ich mir gekauft, und Gesangbuch im Hause, ich sehnte mich auch gar nicht, etwas von „draußen“ zu wissen. Da kam mir, vom Schmerz des Unverstandenseins ausgepreßt, eine Melodie mit Worten in den Mund. Ich sang und sprach zugleich das, was mich bewegte und quälte, aus. Dieses Lied findet sich im 2. Band meiner Gedichte. Es lautet:

„Wen hat man geschlagen, wie man mich schlug?
Wer hat getragen, was ich ertrug?
Ich würde nicht weinen in heißem Schmerz,
Fänd’ ich auf Erden ein gleiches Herz!

Das getroffene Wild, es darf doch schrei’n,
Wenn die Kugel ihm dringt ins Herz hinein,
Den Sklaven brennt Fessel und Peitschenhieb,
Und doch träumt er von Freiheit und Lieb.

Nur du, Herz, mußt sein geduldiglich,
Kein Freiheitsschein darf locken dich,
Du darfst nicht schreien in deiner Qual,
Und stirbst du den Tod auch tausendmal.

‚Sei getrost,‘ ruft mir oft eine Stimme zu,
,Habe Mut, ertrage alles in Ruh,
O rütt’le nicht an der Fessel so sehr,
Sie schneidet nur und schmerzt noch mehr.‘

Und soll ich sie tragen mein Lebelang,
So ist der Seele darob nicht bang;
Nicht murren will ich, o Herr, es sei:
Nur in der Ewigkeit mach’ mich frei! …“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0498.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)