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machen. Als eine eigentümliche Ironie der Geschichte aber müssen wir es bezeichnen, daß an dem nämlichen Tage, als der Kongreß seine Sitzungen begann, das englische Herrenhaus einen Antrag auf Wahlfähigkeit der Frauen in die Gemeindevertretungen mit großer Majorität ablehnte. –

Frau Hanna Bieber-Böhm.
Nach einer Photographie von Otto Becker u. Maaß in Berlin.

Fräulein Dr. jur. Anita Augspurg.
Nach einer Aufnahme der photographischen Anstalt „Elvira“ in München.

Vielleicht die gewichtigste Frage, die dem Kongreß vorlag, betraf die Stellung der weiblichen Berufsarbeiter zum Familienleben. Diese Frage ist ja überhaupt eine der wichtigsten der ganzen Bewegung. Ist die Frau – wenigstens ein Teil der Frauenwelt – wie heute niemand mehr bestreiten kann, durch die Zusammensetzung der modernen Gesellschaft gezwungen, sich einen Beruf außerhalb des Hauses zu suchen, so entsteht auch sofort die Frage: Wie hat sie sich zu verhalten, wenn sie zur Familie zurückkehrt? Soll die verheiratete Frau ihren Beruf beibehalten oder im Interesse der Familie aufgeben? Es fehlte nicht an Stimmen, die das erstere befürworten. Freilich wurde dabei auch sofort die Befürchtung laut, daß der Gatte einer solchen Frau sich die Gelegenheit zu nutze machen und die Füllung des Familiensäckels ausschließlich der Frau überlassen könnte.

Es ist bei dieser Gelegenheit so manches strenge Wort gegen den „Mann an sich“ geäußert worden. Ein streitbarer Geist zog durch die sonst so anmutige Versammlung und die Atmosphäre des Saales begann schwül und heiß zu werden. Doch wie ein befreiender, elektrischer Schlag wirkte es, da die nicht minder als gefeierte Sängerin wie als leidgeprüfte Gattin und Mutter gleich hochverehrte Madame Antoinette Sterling sich erhob und die einfachen Worte sprach: „Ich glaube, daß Sie die Männerwelt zu hart beurteilen.“ Das Frauenherz hatte gesiegt! –

Und es siegte auf dem ganzen Kongreß. Nicht materielle, sondern ideale, ethische Anschauungen gewannen mehr und mehr die Oberhand. Das zeigte sich auch in den Ausführungen der berühmten amerikanischen Tragödin Miß Genevieve Ward, welche über die Stellung der Frau zur dramatischen Kunst sprach. Einst zu Shakespeares Zeit, so bemerkte sie scherzhaft, habe das Publikum zuweilen auf den Beginn der Vorstellung warten müssen, weil sich die Julia noch erst hinter der Bühne rasieren mußte! Heute habe sich die Frau auch auf der Bühne eine geachtete Stellung erworben. Aber nur volle leibliche, geistige und moralische Gesundheit könne auf Erfolg rechnen. Ihre Ausführungen wurden durch eine junge deutsche Schauspielerin, deren geschmackvolle Toilette, nach den englischen Berichten zu schließen, besonderes Interesse erregte, in wirksamer Weise ergänzt. –

Fräulein Sophie Christensen.

Mrs. May Wright Sewall.

Noch mehr aber traten die großen ethischen Gesichtspunkte der Frauenbewegung in den Vordergrund bei der Besprechung socialer Fragen. Das Los der weniger beglückten Schwestern zu lindern – darin erkannte der Kongreß offenbar seine Hauptaufgabe. Wir können aus dem weitverzweigten Gebiet nur einzelnes anführen. Einen interessanten Beitrag zur Auswanderungsfrage bot der Gemahl der Präsidentin, Lord Aberdeen. Durch langjährigen Aufenthalt in Nordamerika mit den dortigen Verhältnissen vertraut, empfahl er Kanada allen auswanderungslustigen Mädchen, warnte jedoch zugleich vor Illusionen. Es existiere eine absurde Erzählung, nach welcher ein nach der Stadt Winnipeg bestimmter, mit jungen Auswandrerinnen angefüllter Zug auf jeder Zwischenstation von heiratslustigen Farmern in Empfang genommen und eines Teiles seiner Passagiere beraubt worden sei, bis er endlich, in Winnipeg angekommen, überhaupt keine Passagiere mehr besaß. Diese Erzählung, so warnte der Lord, sei ganz geeignet, etwaigen Auswandrerinnen bittere Enttäuschung zu bereiten.

Daneben aber fehlte es auch nicht an Blicken in das dunkelste Gebiet der Frauenwelt: die Rettung der Gefallenen und die Fürsorge für die weiblichen Gefangenen. Auf dem letzteren Gebiet hat sich besonders Mrs. Ellen Johnson, Vorsteherin des Staatsgefängnisses für Frauen in Massachusetts, große Verdienste erworben. Auch sie war auf dem Kongreß erschienen und trat warm für die von ihr vertretene Sache ein. Es sollte ihr nicht beschieden sein, in ihre Heimat zurückzukehren. Noch während der Dauer des Kongresses ereilte sie ein plötzlicher Tod. Ein kleiner Vorfall aus ihrer Praxis möge ihr philanthropisches Wirken illustrieren. Eines Tages wurde eine neue Gefangene in ihre Anstalt eingebracht. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, denn auf dem langen Transport hatte sie wiederholt gewaltsame Fluchtversuche gemacht. Mrs. Johnson trat ihr liebevoll entgegen, ließ ihr sofort die Fesseln abnehmen, nahm sie trotz ernster Gegenvorstellungen der Umstehenden mit auf ihr Zimmer und bewirtete sie mit Speise und Trank. Diese unerwartete Liebe machte die Frau zu einer der fügsamsten Gefangenen. Der Verlust der edlen Amerikanerin war der einzige Schatten, der auf die Kongreßtage fiel. Frau Jeanette Schwerin, die verdienstvolle Vertreterin der Frauenbewegung in Berlin, ward erst nach ihrer Heimkehr vom Tod ereilt.

Neben ernster Arbeit wurde den Mitgliedern auch so manche festliche Veranstaltung bereitet. Zwar den dazwischen liegenden Sonntag verlebte man der Landessitte gemäß in stiller Ruhe. Die einzige Ausnahme davon machte eine Amerikanerin, welche auch an diesem Tag zu sprechen wünschte und die Kanzel einer Sektengemeinde bestieg, um an Stelle des Herrn Pfarrers die Predigt zu halten. Wünschte diese Dame etwa auch den geistlichen Beruf den Frauen zu eröffnen? Sicherlich hatte der Bischof von London, als er die Abgeordneten gastfreundschaftlich in seinen bischöflichen Palast einlud, von dieser seinem Amte drohenden Neuerung keine Kenntnis! Von den übrigen festlichen Veranstaltungen sei nur noch das großartige Gartenfest erwähnt, das Lady Rothschild auf ihrem herrlichen Landsitze unweit London veranstaltete. Den eigentlichen Abschluß aber bildete ein Empfang bei der greisen Monarchin des Landes. Etwa 250 Damen verfügten sich nach Windsor, wo sie von der Königin huldvoll empfangen und sodann gastfreundlich bewirtet wurden.

So endete der zweite Internationale Frauenkongreß in London. Sind abermals fünf Jahre über diesen Erdball mit all seinen schwebenden Fragen dahingezogen, so hofft man sich zum dritten Kongreß in Berlin wiederzusehen. –

Bournemouth. Dr. F. Müller.     


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0577.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)