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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nur dem Schwesterchen wurden die Wimpern schwer,
Und bald nickte das Köpfchen und hörte kein Wort,
Da half auch dem Bübchen kein Betteln mehr,
Sie mußten beide ins Nestchen fort.
Und im Bettchen noch seufzte der Junge: „O weh,
Erzähl’ doch noch mehr von der Mondscheinfee!“

 *      *      *

Ihre Spur ist von Silber, ihr Hauch von Duft –
Was liegt wohl da draußen so weiß in der Luft?
Was scheint wohl so wunderschön hell durch die Scheiben?
Was läßt ihn in seinem Bettchen nicht bleiben?
Muhme und Schwesterchen schlafen so tief …
War es ihm nicht, als ob es ihn rief?
Er lauschet – was hat er von draußen vernommen?
Warum will ihm nicht der Schlummer kommen?

Nun klettert er sacht aus den Kissen hervor –
Was schwebt vor ihm her wie ein schneeweißer Flor?
Was will von da draußen ihm winken? ihn grüßen?
Er trippelt zum Fenster mit hastigen Füßen,
Er schaut in die Nacht – was macht sie so licht?
War es ihm nicht wie ein weißes Gesicht? …
Da liegen die Felder wie weißer Traum,
Er traut seinen offenen Augen kaum,
Die Bäume im Hof sind wie Wolken von Schnee –
Steht sie nicht da, die winkende Fee? …

Er schleicht sich zur Thüre, sacht, ganz sacht,
Er klinkt sie auf, – nun hinaus in die Nacht,
Im bloßen Hemdchen, im bloßen Haar,
Barfuß hinaus; … da, da, was war
Zwischen den Bäumen so seltsam licht?
War da nicht deutlich das weiße Gesicht?

Aber schneeweiß ist die ganze Nacht.
Ueberall schimmernde, wolkige Pracht.
Ueberall weiße, mondhelle Luft.
Ueberall süßer, berauschender Duft.

Und er läuft auf das Feld, das noch heller ihn lockt,
Ueber und über schneeweiß beflockt …

Und es winken die Hügel hinaus auf die Heide,
Ueber und über wie schimmernde Seide …

Und er läuft mit fliegenden, flatternden Haaren
Durch das Gras und die lichtweißen Blumenscharen.
Wo ist sie, die schöne, die schimmernde Frau? –
Es kühlt ihm die Füßchen der nächtige Tau.
Ihm ist in dem Hemdchen so luftig und leicht.
Schon hat er die Spitze des Berges erreicht,
Da – welche blendende, neue Pracht
Winkt ihm von unten herauf durch die Nacht?

Ein schönerer Mond, als am Himmel steht,
Schimmert und glänzt und wiegt sich am Grunde.
Und ihm ist, er hört eine rauschende Kunde …
Wie ein Wiegenlied weich, wie ein Lied von dem Munde
Seiner Mutter kommt es heraufgeweht.

Und bald scheint’s wie ein wunderbar silberner Schwan,
Bald wird’s wie ein blinkender, schaukelnder Kahn,
Bald ringelt sich’s goldig mit leuchtenden Locken,
Bald lösen sich tausend weißflimmernde Flocken,
Bald winkt’s wie ein Leib, lichtlieblich wie Schnee –
Das ist sie, das ist sie, die Mondscheinfee!

Und das Kind, halb wachend und halb im Traum,
Was es thut, was es will, schon weiß es das kaum.
Schon sinken die Augen ihm müde und schwer,
Doch es läuft noch und läuft … Kaum sieht es mehr
Da unten die winkende, blinkende Pracht.
Den Hügel hinab durch die schneeweiße Nacht
Läuft es und läuft – und es flattern im Winde
Sein bloßes Hemdchen, sein bloßes Haar,
Und es kennt nicht die schlimme, die tiefe Gefahr …
0000000000
Helf' Gott dem schuldlosen Kinde!

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Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0614.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)