Seite:Die Gartenlaube (1899) 0623.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Dann sah er Cilgia wieder hoffnungsvoll an:

„Oder darf ich Sigismund doch einmal zu Euch nach Pontresina senden?“

Cilgia antwortete mit leisem Kopfschütteln. Eine Weile darauf sagte sie: „Wir sollten, denke ich, ins Pfarrhaus zurückgehen!“

Sie zerbrach sich den Kopf, wie sie den alten Mann, den sie hatte enttäuschen müssen, fröhlicher zu stimmen vermöchte.

Als er sich zum Abschied rüstete, bestürmte er sie noch einmal, daß sie doch das Kettelchen mit dem Medaillon annehme, er werfe es sonst in den nächsten Bach.

„Damit Ihr nicht glaubt, daß ich ganz ungehorsam sei,“ sagte sie plötzlich in alter Schelmerei, und er legte es mit seinen klobigen Händen um ihren schönen Hals.

„Ich habe schon gedacht, daß Ihr gegen einen alten Mann nicht hartherzig sein könnt.“

Und in herzlicher Freude schüttelte er ihr die Hände mit so kräftigem Druck, daß sie meinte aufschreien zu müssen.

„Geb’s Gott,“ sagte er feierlich, „daß Ihr Euch auch im andern und wichtigern noch zu uns wendet. Auf Wiedersehen, liebe Cilgia!“

Als er mit dem Pfarrer jenseit des Berninabrückleins verschwunden war, ging sie, wie jeden andern Abend, die Pfarrersziegen abholen.

Aber sie war in gärender Erregung.

Nein, nein – es lebte nichts in ihrer Brust, was für den Flüchtling von Fetan sprach. Soviel sie damals zu erkennen vermocht hatte, war er ein junger Mann, wie Hunderte im Lande umherlaufen, wohlgewachsen, blaue Augen, hübscher blonder Schnurrbart. Nichts sprach für ihn, als daß er dieses Vaters Sohn war.

Und sie liebte ihre Freiheit und Unabhängigkeit.

Während sie so überlegte und träumte, kam von seiner Hütte her Paltram. Er hatte seinen Schurz abgelegt, trug Halbsonntagsstaat und über dem Rücken das Gewehr.

Er überraschte sie mit seinem „Guten Abend, Fräulein Premont!“ und als sie den Kopf hob, sagte sie mit einem Lächeln der Verwirrung: „Wie sich das trifft, ich habe eben an Euch gedacht“ und errötete ein wenig über ihre Worte. „Sagt, seid Ihr mit dem jungen Gruber unartig gewesen, als Ihr ihn über das Sesvennagebirge führtet? Das habe ich mich vorhin gefragt.“

„Gewiß nicht,“ sagte Paltram nähertretend, „nur einmal ist mir ein böses Wort entfahren – eins, das ich nicht bereue!“

„Erzählt doch,“ bat Cilgia.

„Wenn Ihr den jungen Gruber lieb habt, dann ist es nichts für Euch. Ihr wäret mir später gram,“ versetzte er düster.

„Ihr dürft herzhaft erzählen,“ sagte Cilgia. „Kommt, wir gehen etwas den Waldrand entlang.“

Und sie nickte ihm ungeduldig ermunternd zu.

„Drei Tage,“ erzählte Markus Paltram, „lag Gruber in schweren Fiebern zu Scarl; am vierten schleppte ich ihn mit aller Vorsicht über die noch schwer im Schnee begrabene Scharte, und jenseit der Höhe, auf einem Vorsprung, machten wir Halt. Tief unter uns lag in seiner Heide das Dorf Mals. Da sagte der Tiroler: ,Dort unten wohnt ein guter Freund meines Vaters, geht dort nur hinab und meldet im Herrenhaus, bei Baron Mont, daß ich da oben liege. Er wird schon für mich sorgen.‘“

„Baron Mont – er war einmal im Institut zu Fetan und ich mit a Porta einmal in Mals,“ unterbrach Cilgia den Bericht des Büchsenschmieds.

„Ja, der Baron möchte die Malserheide gern in Wiesen und Aecker verwandeln,“ versetzte Markus Paltram. – „Wir ruhten ein wenig und sahen in unserer Nähe an schneefreiem Hang ein Rudel Gemsen, die an einem nassen Felsen leckten. Ich sagte halb für mich: ,Das wäre ein Schießen!’ Da antwortet der Fiebernde, allerdings tief verwirrt: ,Da könnte man die Gabel stellen‘ und sah mich listig an. Ich aber antworte: ,Bist du so ein Hund?‘ Und mit unserer Freundschaft war es aus.“

Heftig schleuderte Paltram die letzten Worte heraus.

Erschrocken sagte Cilgia: „Von dem allem verstehe ich nichts. Aber, wie ich höre, habt Ihr ihn dann doch noch bis ins Suldenthal begleitet.“

„Er war Euer Schützling – und so rasch mein Blut ist, so wohl kann ich mich zähmen – ich ging bis an die Hausthüre des Suldenhofes mit – – aber ein Gabeljäger –“

In seinen Augen funkelte der Camogaskerglanz – eine peinvolle Stille entstand – erst nach einer Weile brach er sie:

„Ihr seht, Fräulein Premont, ich hätte nichts sagen sollen; aber wenn Ihr hört, was die Gabel ist, werdet Ihr meinen Zorn verstehen.“

„Es ist gewiß etwas Entsetzliches?“ fragte Cilgia kleinlaut.

„Die Gabeljäger,“ erzählte Paltram ruhiger, „sind die traurigen Tröpfe, die vor den Salzlecken mit Pfosten und Stricken eine breite Leiter befestigen und die Gemsen darin fangen. Die ersten Tage fürchten die Tiere das Gerät, aber wenn sich in der weiten Runde nichts rührt, so nähern sie sich doch salzlustig, betrachten die Gabel, gehen wieder fort, kommen aufs neue, werden vertrauensselig, die keckste stellt sich auf die Hinterfüße, steckt den Kopf vorsichtig in das oberste weiteste Viereck der Leiter, leckt am Felsen und kann den Kopf ganz wohl zurückziehen, da die Hörner in dieser Stellung stark nach rückwärts liegen. Andere folgen ihrem Beispiel. Ist das Salz in der Höhe erschöpft, so zwängen sie, unvorsichtig geworden, den Kopf in die mittleren und unteren Vierecke, die enger sind, ja oft dann noch, wenn sie dieselben schief legen müssen, um überhaupt noch durchzukommen. Zurückziehen können sie ihn aber, wenn sie einmal zwischen den unteren, eng zusammengestellten Sprossen sind, nicht mehr; sie bleiben an den nach rückwärts gekrümmten Hörnern hängen, werden wahnsinnig vor Angst und gehen oft in einigen Stunden schon zu Grunde, wenn nicht vorher der Schandbube kommt und die Sterbenden mit einem Knüppel erschlägt!“

„Und das triebe ein Sohn Grubers, unser Flüchtling von Fetan?“ Cilgia war blaß vor Empörung.

„Ich beschwöre es nicht,“ erwiderte Paltram vorsichtig, „ich habe nur aus seiner Fieberrede den Verdacht geschöpft.“

Sie aber schloß aus den Andeutungen Lorenz Grubers über den langen Hitz, daß es sich so verhielte – ein Schatten fiel damit auf einen Namen, den sie seit ein paar Stunden ehrte, und sie schwieg in peinvollem Nachdenken.

„Manche Gabelsteller,“ fuhr Markus Paltram, seinen eigenen Gedankengängen folgend, fort, „erwarten das Abschwächen der Tiere nicht, sondern sie nähern sich, sobald sich die Gemsen verfangen haben. Die ausgestellte Gratwache pfeift, dann reißen die Tiere in ihrem Wahnsinn so an den Sprossen, daß sie ihre Hörner abbrechen und frei werden. Sobald Gemsen mit abgebrochnen Hörnern durch ein Revier laufen, so wissen die Jäger, was es zu bedeuten hat. In allen Berglanden aber besteht ein ungeschriebenes Recht und geht vom Vater auf den Sohn, nämlich, daß der Gabelsteller der Kugel des ersten Jägers, der ihn trifft, verfallen ist.“ Scharf und erregt sagte es Markus Paltram.

„Würdet auch Ihr auf ihn anlegen?“ fragte Cilgia zag.

„Auch ich,“ antwortete Paltram ruhig und fest.

Da vergaß sich Cilgia, sie erhob sich, in fieberhafter Erregung nahm sie seine Hand in ihre zitternde Rechte.

„Schaut mich an, Paltram; von Fetan her bin ich Eure Freundin und kein Mensch auf der Welt meint es besser mit Euch.“ Ihre Stimme bebte. „Ich möchte Euch an ein höheres Ziel weisen, als daß Ihr eines Tages beladen mit dem Gericht Gottes und des eigenen Gewissens aus den Bergen kommt!“

Mild, fast demütig, mit der Glut einer jungen Seele mahnend, stand sie neben ihm, mit beredterem Auge als Wort.

„Fräulein Premont,“ keuchte er und seine Blicke verschlangen die schöne Gestalt.

„Hört, Paltram! – Ihr seid auch ein ruchloser Jäger! – Sagt, kann man mit ruhigem Gewisien in das Auge eines Tieres zielen? – Furchtbar! – Mir kriecht es kalt über die Brust! – Das Herz einer Gemse, das eben noch heiß und lustig geschlagen, soll plötzlich still stehen! – Und meint Ihr nicht, die Tiere erheben ihre Augen ebenso freudig zu den strahlenden Schneegipfeln wie wir? – Nein, wißt, ihr Jäger alle zusammen habt ein schlechtes Gewissen, das bezeugen eure Sagen! Ihr glaubt eine Gemse in den Bergen zu schießen, durch ein Wunder aber trifft die Kugel die Schwester oder Braut, die friedlich zu Haus am Spinnrocken sitzt.“

Markus Paltram staunte wortlos in das flammende Mädchengesicht. – Wer spricht so zu ihm? – Ihm ist, über seine Seele ergieße sich Licht.

Aber er lacht bitter: „Seht, Fräulein Premont, es ist gewiß

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0623.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2022)