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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 21.   1899.


Der König der Bernina.

Roman von J. C. Heer.
(2. Fortsetzung.)
5.

Besuch in St. Moritz!

In der Sommerfrühe gehen Pfarrer Taß und Cilgia den herrlichen Pfad durch Lärchen- und Tannengrün dahin und in die tiefe, stille Waldfröhlichkeit scheinen von rechts her die blanken Dörfer Samaden und Celerina.

„Gerade hier bei dieser alten bärtigen Lärche war es,“ sagt der Pfarrer, „wo mich Lorenz Gruber so dringend gebeten hat, daß ich alles thue, um dich seinem Sohn geneigt zu stimmen. Du wirst sehen, daß der Jüngling eines Tages vor das Pfarrhaus geritten kommt.“

„Es wäre umsonst,“ antwortet Cilgia, die ein reizendes helles Sommerkleid nach jenem Schnitte trägt, der mälig aus Frankreich ins Hochland gekommen ist.

Allerliebst und wie das Waldmärchen sieht sie aus, dachte der Pfarrer.

Plötzlich aber bricht sie, in die Hände klatschend, in einen hellen Jubelruf aus:

„Ein Spiegel – nein – eine Seele – die Seele des Waldes!“

Sie waren vollends in die Lichtung getreten, wo auf der Anhöhe zwischen Pontresina und St. Moritz der moorige Statzersee schweigend im Kreis der Tannen ruht.

„Was für ein sonderbarer kleiner See,“ fährt sie nachdenklich fort. „Von weitem scheint er undurchdringlich und unheimlich wie die Nacht, aber jetzt – da sehe man her, diese perlende Klarheit! Den Himmel spiegelt er, die Spitze des Piz Rosatsch und tief ist er doch nicht! Man sieht bis auf den schwarzen Grund, da liegen modernde Stämme wie Leichen.“

Sie war an das flache Ufer getreten, kniete nieder und wollte die Hände in die Flut strecken.

Da schrie sie plötzlich: „Das Ufer schwankt!“

„Ja, zurück, du Unvorsichtige!“ rief der Pfarrer, und lachend über ihren eigenen Schreck kam sie gelaufen.

„Bestrafte Neugier!“ lachte der Pfarrer, stillstehend, „aber schau ihn an, den kleinen, stillen See! Scheint er nicht harmlos wie ein schlafendes Kind? Dennoch hat im Engadin keiner so viel Menschenleben gefordert wie er. Die warme, klare Flut lockt zum Bad. Wer aber mit den Armen das Ufer los läßt, ist rettungslos verloren. Der eine Fuß sinkt im Moorgrund ein; wie sich der andere sperrt, packt der Schlammrachen auch ihn und jeder Atemzug treibt den Badenden tiefer in den Grund. Mit jedem Herzschlag sinkt er um Fingersbreite, das Wasser steigt ihm an die Brust, an den Mund, ein letzter Schrei, dann ragen nur noch zwei Hände empor, zuletzt schließen sich Wasser und Schlamm über den Fingerspitzen, und fände nicht ein zufällig Vorübergehender die Kleider am Ufer, so würde

Das Wittekind-Denkmal in Herford.
Nach einer Aufnahme von Photograph E. Schuckert in Herford.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0645.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2019)