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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

man nie erfahren, daß hier ein armes Menschenkind elend versunken und ertrunken ist.“

„Der entsetzliche kleine See. Wer dächte, daß er so abgründig ist – er ist doch so schön!“

In düstrer Träumerei blickte Cilgia vor sich hin.

„Der See ist ein Camogasker,“ sagte der Pfarrer.

Da wurde der Ausdruck ihres Gesichtes noch schmerzlicher. Sie dachte an Paltram.

Wie dieser See sollte er sein? In was für ein wunderbares, begeistertes Augenpaar aber hatte sie jüngst dort am Waldbord geblickt, in was für ein Angesicht voll geistiger Wucht! Die heiße Hoffnung und Ueberzeugung lebte seither in ihr, daß Paltram durch sie doch ein Mann von großer That werden würde. Sie hielt aber ihre Hoffnung so tief und geheim, daß sie selbst zu ihrem Onkel nicht davon sprechen mochte.

Schweigend schritten sie von dem kleinen unheimlichen See hinweg – durch die von der Morgensonne rot überleuchteten Stämme und betraten eine kleine stille Wiese, auf der sich ein einsames Gehöft erhebt. Vor ihnen lachte jetzt mit einem Schlag die Landschaft von St. Moritz.

Aus einem frischen See, der ihnen märchenhaft zu Füßen lag, zuckten grüne und blaue Strahlen, und St. Moritz, das Dörfchen, das mit seinem schiefen, schlanken Kirchturm altväterisch lieblich an seinem Berghang stand, spiegelte sich in der anmutigen Wasserfläche. Hinter dem See glänzten smaragdene Wiesen, tiefer noch, von Waldhügeln halb versteckt, schimmerten wieder Wasser im Opalglanze. Ueber ihnen hoben die Margna ihr schönes, sanftes und der Piz Julier sein stolzes, schroffes Haupt und wunderbares Schneelicht rann von ihnen in das Sommerbild.

Cilgia stand, die Finger ineinander verkreuzt, stumm vor der reinen Schönheit des Thales.

„Du hast recht,“ sagte der Pfarrer, mit einem Lächeln auf die gefalteten Hände seiner Nichte blickend, „es ist ein Bild wie ein Gebet.“

„Welche Gegensätze, die zwei einander so benachbarten Seen!“ sagte sie. „In jenen Wassern wohnt die Nacht und kein Sonnenstrahl vermag sie daraus zu tilgen, in diesen aber sonnt sich der Tag, und was an Licht und Frohsinn in den Lüften und um die Bergspitzen schwebt, hat er in seine Flut gesogen.“

„Er ist wie die ruhige, heitere Volksseele des Engadins,“ bestätigte der Pfarrer mit Behagen.

Da glitten von rechts her zwei Fischerboote durch die lichte türkisne Flut. In jedem standen zwei Jünglinge und schwenkten, als sie Cilgia und den Pfarrer entdeckten, die Hüte.

„Konradin von Flugi und Luzius Planta, Fortunatus Lorsa und Andreas Saratz,“ jubelte Cilgia.

Ein prächtiges Vierblatt von Freunden! In aller Frühe hatten sie sich zusammengethan und überraschten den lieben Besuch durch den Empfang am Seegestade.

Cilgia stieg in den ersten, der Pfarrer in den zweiten Kahn und in glücklicher Fahrt trugen die Schifflein die scherzende Jugend und den fröhlichen Pfarrherrn über den lichten See, an dessen einem Ufer ein schöner Bergwald seine Zweige in die Flut niedersenkt, während sich am anderen aus dem schwellenden Sammet einer grünen Wiesenanhöhe das weiße Dörfchen St. Moritz erhebt.

„Wir wollen,“ sagte Konradin von Flugi, „unsere Gäste weder hungern noch dürsten lassen, aber Euch doch zuerst das Wunder unseres Thales, die herrliche Sauerquelle, weisen, die dort drüben, wo der Inn in den See fließt, aus dem Erdreich sprudelt.“

„Diesen Brunnen möchte ich allerdings gern sehen,“ erwiderte Cilgia mutwillig, „denn es geht sonderbare Mär von ihm. Einem sinnigen Knaben, der nirgends lieber als an der Quelle weilte, erklangen, als er stundenlang in die strudelnde Klarheit blickte, mit dem Summen des Quells die Rhythmen der Seele, und er wurde Poet!“

Herr Konradin errötete unter dem sonngoldenen Blick Cilgias, denn er machte aus seiner Dichterei ein Geheimnis. Der Pfarrer im andern Boot unterhielt sich indessen angelegentlich mit Luzius von Planta, den er wegen seines feinen, klaren Wesens besonders liebte.

Mit einem Lied glitt die Gesellschaft über die leuchtkräftige Flut, die sich im frischen Thalwind leise zu kräuseln begann, und jugendliche Arme trieben die Boote noch ein gutes Stück im kristallklaren Fluß des Inns aufwärts, der durch ebene Matten zum See geschlängelt kommt. Dann landete die kleine Gesellschaft und lenkte ihre Schritte gegen ein altes steinernes Gebäude, das sich zwischen dem Inn und dem Piz Rosatsch in den Wiesen erhob.

„Unsere Trinklaube!“ erklärte Herr Konradin.

In bunten Gruppen lagerte zusammengewürfeltes Volk auf dem grünen Rasenteppich vor der Halle. Manche hatten ein Feuer angezündet, zu dem sie das dürre Reisig im nahen Wald gesammelt, um den Trunk aus der Sauerquelle etwas zu erwärmen, andere spielten mit Karten oder Würfeln, einige streckten sich an der Sonne, noch andere liefen im Schweiß ihres Angesichts hin und her, um die Wirkung des Wassers zu erhöhen, und die meisten holten oder brachten in Gefäßen mannigfaltigster Art frischen Trunk.

„Es ist lustig,“ meinte Cilgia, „die Leute passen ja gar nicht zusammen. Da sind Frauen aus dem Unterengadin mit ihrer dunklen nonnenhaften Tracht, da sind ernste Bündner aus den deutschen Thälern, leichtsinnige italienische Fahnen mit schreiendem Rot und die fröhlichen Bursche und Mädchen aus Tirol.“ –

Gefesselt von dem schönen Sommerbild, schaute Cilgia um sich.

Hier trafen ihre Blicke einen alten gebrechlichen Mann, der den Trinkbecher in zitternden Händen hielt, dort sah sie ein blasses, in ein Tuch eingeschlagenes Mädchen, dem die Mutter den Trunk bot.

„Ist die Quelle denn für alle gut?“ fragte sie.

„Das ist nicht anders,“ lachte der Pfarrer, „die Dünnen trinken das Wasser, um dick zu werden, und die Dicken erwarten von ihm jugendliche Schlankheit.“

„Doch merkwürdig,“ erwiderte sie, „es ist meist armes Volk, das hier zusammenkommt.“

„Herrenleute sind allerdings keine da!“ lächelte der Pfarrer.

Sie hatte den langen Hitz bemerkt. Da sie nicht wollte, daß er sie anspreche, trat sie mit dem Pfarrer und den Jünglingen in die nach Süden offene, stark verwetterte und verlotterte Trinklaube. Der rasche Lorsa bückte sich zum Quellenbehälter, schöpfte mit blechernen Bechern das perlende Naß und bot es dem Pfarrer und Cilgia.

„Willkommen zu St. Moritz, liebe Freundin!“

„O, was für feine kleine Silberkügelchen steigen in dem Wasser auf!“ rief Cilgia überrascht, und als sie den Becher an die frischen, schwellenden Lippen geführt hatte, sagte sie lebhaft: „Das schmeckt ja köstlich, das prickelt wie fröhliches Leben. Daß aus der Erde so herrliche Spenden kommen, dachte ich nicht.“

Ueber Herrn Konradins Gesicht ging ein glückliches Leuchten, er selber und die Jünglinge tranken das Wasser nach Herzenslust.

„Wie häßlich aber der Behälter für das wunderbare Geschenk Gottes ist: zwischen halb verfaulten Brettern sprudelt die arme herrliche Quelle und sie ist doch so reich, daß sie fast ganz ungenützt weiter fließen muß. Da könnte ja ein ganzes Volk trinken! Ist das nicht ein Unrecht gegen die Güte der Natur!“

Aufmerksam blickte Cilgia in die Grube, wo der klare Quell flutete und brodelte und mit leisem Summen und Zischen die silbernen Bläschen stiegen und zerplatzten.

Nun erzählte Herr Konradin von den berühmten Gelehrten, die die Quelle in früheren Zeiten aufgesucht und mit ihrem Lobe bedacht hatten, von Theophrastus Paracelsus, einem gar wunderlichen Kauz und großen Gelehrten, der im Jahr 1525 zu St. Moritz erschien und nachher schrieb, daß er den Sauerbrunnen allen in Europa voranstelle. Dann sprach er von Cesat, dem italienischen Arzt, der St. Moritz großen Ruhm bereitete, und von dem Naturgelehrten Scheuchzer aus Zürich, der vor hundert Jahren die Quelle pries.

Drüben in St. Moritz läutete jetzt die Elfuhrglocke. Da mahnten die Jünglinge zum Aufbruch.

Ein Häuflein italienischer Bauern kochte am Feuer ihren Mais und neben der Pfanne schlug einer auf der Guitarre ein Volkslied; die Tiroler aber hatten kalte Mundvorräte ausgepackt und ließen sich das einfache Mahl schmecken.

„So ist’s halt,“ sagte der Pfarrer, „wer nach St. Moritz zum Brunnen kommt, muß das Essen auf dem Rücken mitbringen, wie die Schnecke ihr Haus, und froh sein, wenn man ihm irgend einen Verschlag oder Estrich im Dorf zum Nachtquartier giebt. Darum haben sich die vornehmen mailändischen Familien zurückgezogen, die vor hundert Jahren St. Moritz besuchten.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0646.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)