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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Müthchen.
Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter.
II.

Es ist eine schöne Sache um die Ideale, besonders in der Jugend. Daß Müthchen sich aber gerade den Pferdeknecht Ziegenhorn zum Vorbild nimmt, ist bös und macht mir viel zu schaffen.

Ziegenhorn richtig zu beschreiben, würde ich mich vergeblich bemühen. Die Natur hat ihn in einem Anfall von grotesker Laune hervorgebracht, und es ist schwer, wenn nicht unmöglich, all ihren Seitensprüngen und Bizarrerien zu folgen. Unter anderem hat sie ihn mit einem weit vorstehenden Unterkiefer begabt, was Müthchen als besondere Schönheit zu empfinden scheint, denn er geht seit Tagen mit vorgeschobenem Mündchen herum und bemüht sich mit rührender Geduld, es Ziegenhorn womöglich noch zuvor zu thun.

„Aber Müthchen, was machst du denn für ein Gesicht?“

„So eins hat Ziegenhorn auch,“ antwortet er stolz.

Vom Jäckchen knöpft Müthchen trotz aller Ermahnungen nur noch den obersten Knopf zu, um die Arme nach Ziegenhorns Manier unter die fliegenden Rockschlippen stecken zu können, oder er steht mit gespreizten Beinen, die Händchen tief in den Hosentaschen vergraben. Beim Waschen verbittet er sich jegliche Hilfe, seitdem er Ziegenhorns Toilette im Stalle einmal beigewohnt hat. Er taucht die Aermchen bis an die Ellbogen ins Wasser, und dann fährt er mit den nassen Händchen übers Gesicht, prustet und spritzt, daß die Stube schwimmt und der Spiegel täglich geputzt werden muß.

Daß er sich Ziegenhorns Sprache mit allen Nuancen und Feinheiten angeeignet hat, ist selbstverständlich; er setzt eine Ehre darein, den Frankenhäuser Jargon möglichst echt zu sprechen. Kraftausdrücke, wie sie Ziegenhorn in erstaunlicher Fülle zu Gebote stehen, imponieren ihm am meisten, und er bringt sie, etwas verändert und an der unrichtigen Stelle, gern an.

Ich suche seine Sprache zu korrigieren, soviel ich kann, habe aber bis jetzt keinen Erfolg damit.

„Mutter, weißt du, was ich jedenkt hab’?“

„Es heißt ,gedacht’, Müthchen!“

„Ziegenhorn sagt aber: jedenkt! – –“

„Mutter, Ziegenhorn hat jesoht – –“

„Es heißt: gesagt! Du sollst nicht so häßlich sprechen,“ sage ich ärgerlich.

„Aber Mutter, Ziegenhorn –“

„Was Ziegenhorn sagt, ist mir ganz einerlei, der weiß es eben nicht besser!“

Müthchen läßt sich nicht irremachen. „Mütterchen, Ziegenhorn muß es doch aber wissen – –“

Es hilft nichts, Ziegenhorn bleibt eben Autorität.

„Ziegenhorn und dich hab’ ich am liebsten auf der Welt,“ sagt Müthchen, wenn er besonders zärtlich sein will, und ich muß mich darein finden, an zweiter Stelle zu stehen.

Die Zuneigung Müthchens erstreckt sich übrigens auf die ganze Familie. Ziegenhorns haben kurz hintereinander drei Kinderchen bekommen, und Müthchen bringt jedem einzelnen ein warmes Interesse entgegen. Er stattet Frau Ziegenhorn Wochenbesuche ab, vermittelt Bestellungen zwischen „ihm“ und „ihr“, kauft für Ziegenhorn bei Nachbar Hinsching Tabak und wird ganz gerührt, wenn er auf die Niedlichkeit der Ziegenhörnchen II und III zu sprechen kommt. Sein besonderer Liebling ist aber Lieschen, die Aelteste, deren Erziehung in Ziegenhorns Sinne er schon mit in die Hand nimmt.

Es ist gut, daß Müthchen in acht Tagen wieder zur Schule geht, nachdem er des Scharlachs wegen ein ganzes Vierteljahr ausgesetzt hat. Er wird dann Ziegenhorns Einfluß etwas entzogen, und nach Tisch wird ein paar Stunden lang eine geradezu köstliche Ruhe herrschen. Mit dem Mittagsschlaf hat es ohnehin keine rechte Art mehr, Müthchen ist nun schon zu groß. Einstweilen genießt er noch seine Freiheit. Ich kann mich heute nicht viel um ihn bekümmern, da ich mir für den Abend eine kleine Gesellschaft eingeladen habe und die Vorarbeiten, wie Tischdecken und dergleichen, auf meinen Schultern ruhen.

Leider kann sich Müthchen nicht fünf Minuten lang allein beschäftigen. Er muß immer ein paar Kinder zum Zugucken haben, wenn er spielt. Ich sage „zugucken“, denn anrühren dürfen sie bei Leibe nichts, oder gar selbständig ein Spiel beginnen! Müthchen sucht sich nur solche aus, die ihm unbedingt gehorchen und mit der nötigen Bewunderung zu ihm aufsehen.

Heute hat er wieder eine neue Errungenschaft:

„Mutter, kann ich mir Schindler ein bißchen holen?“

„Wer ist Schindler?“ frage ich mißtrauisch.

„Aber Mutter – Schindler! Den hier unten in dem grünen Haus – –“ Müthchen ist außer sich darüber, daß ich in unserer Straße so schlecht orientiert bin. Er beschreibt mir Schindlers mit aufgeregten Gesten, ich bleibe aber dabei, daß ich sie nicht kenne. Nach einer Weile ruft er wieder. Ich gehe hinaus und sehe einen fremden kleinen Jungen mit feinem Gesichtchen neben Müthchen stehen.

„Dies ist Schindler,“ sagt mein kleiner Schlingel mit großartiger Handbewegung.

„Schön,“ sage ich ruhig, dem Kinde die Hand gebend, „aber ich kenne Schindler wirklich nicht.“

Müthchen versucht’s auf eine andere Art, seiner Mutter zu Hilfe zu kommen. „Sag’ doch mal: ‚Schindler‘, Mutter!“

„Schindler,“ spreche ich nach.

„Siehst du wohl, daß du ihn kennst!“ jauchzt Müthchen, ganz glücklich, mich nun doch überführt zu haben.

Ich schicke die Jungen aus, um mir Ziegenhorn zu holen. Er soll mir helfen, das Klavier umzustellen, sonst haben wir heut’ abend nicht genug Raum in dem kleinen Zimmer. Ziegenhorn kommt mit der ihm eigenen Anmut an. Er ist mir gern gefällig, aus Freundschaft für Müthchen, und dann, weil ich ihm manchmal etwas in die Hand drücke, wofür er nicht unempfänglich ist. Diesmal will ich es mit einem einfachen „Danke schön!“ bewenden lassen, denn er hat voriges Mal die doppelte Ration empfangen. Müthchen vereitelt jedoch den Plan. Er fragt mich in Ziegenhorns Beisein: „Hast du Ziegenhorn schon seine Mark gegeben?“

Aergerlich über das große Trinkgeld, das ich gern sparen wollte, setze ich Müthchen und Schindler vor die Thür, nachdem ich noch eine kleine Rede über naseweise Kinder gehalten habe, die von Müthchen in seiner Unschuld nicht begriffen wird.

„Ihr könnt ein bißchen auf dem Hof spielen. Macht aber keine Dummheiten“, rufe ich ihnen nach, dann gehe ich seufzend aus Staubputzen. Von allen häuslichen Arbeiten ist mir das die unangenehmste. Man sieht nicht recht, was man vor sich bringt, und wird doch stundenlang aufgehalten. Selbst gegen die zahllosen Nippes, mit denen ich gern mein Zimmer schmücke, steigt in solchen Momenten etwas wie Haß in mir auf. Mit spitzen Fingern nehme ich Väschen, Bären, Hündchen und Muscheln von den Bördchen und habe dann doch das Pech, einen niedlichen kleinen Porzellanengel zum Krüppel zu machen. Gerade den allerhübschesten!

Zornig über mein Ungeschick klappe ich den Klavierdeckel auf, die Tasten abzuwischen.

Meine Augen werden groß vor Schreck: das ganze Klavier ist mit Stearin beträufelt, und die Tasten geben beim Niederdrücken ein sonderbar raschelndes, knitterndes Geräusch von sich.

Was ist denn das? Ich versuche eine nach der – andern dieselbe Geschichte! Lange mühe ich mich vergebens, das böse Rätsel zu lösen, endlich aber entdecke ich ein Stückchen rote Gelatine. Noch eins … und noch eins.

Irgend jemand – natürlich Müthchen! – hat mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit jede Taste mit einer Unterlage von Gelatine versehen. Eine weitere Ahnung sagt mir, daß es dieselbe

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0754.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2019)