Seite:Die Gartenlaube (1899) 0759.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie sah ihn zweifelnd und starr an.

Wollen Sie, daß ich es thue?“ frug sie.

„Ja, ich will es,“ antwortete er mit einem warmen Blick, „auch um Ihrer selbst willen – nein, nur um Ihrer selbst willen will ich es – dieser Haß und Abscheu ist ein so fremder Zug in Ihrem Bilde, er stört mich, und das will ich nicht! Sie sollen es bekämpfen – nicht wahr?“

Sie sah ihn mit einem forschenden, unerklärlichen Blick an. „Also Sie wollen es!“ sagte sie nur noch einmal, dann ging sie ins Haus, ohne den Kopf nach ihm zu wenden.

Aus dem Fenster ihres bisherigen Zimmers hatten zwei scharfe Augen sie schon eine ganze lange Weile beobachtet.

Agnetens Schwester stand, halb hinter den Fenstervorhängen verborgen, und sah die beiden Gestalten aus dem Walde treten und sich nach kurzem, angelegentlichem Gespräch verabschieden – sie sah, wie Groden noch eine geraume Zeit stand und in Gedanken verloren hinter Agnete hersah, nachdem sich die Thür schon lange hinter ihr geschlossen hatte.

„Sieh’, sieh’!“ sagte das ältliche Fräulein vor sich hin, und ein unangenehmes Lächeln zog ihren Mund herab.

Sie hatte ein verkniffenes, unbedeutendes Gesicht, in das kleinliche Sorgen und kleinliche Freuden ihre Linien gezeichnet hatten, in dem ersichtlich nie ein großer Gedanke, nie ein weites, freies Gefühl gespielt oder auch nur Wiederhall gefunden hatte. Alles an ihr – Anzug, Bewegung und Mienenspiel – sprach von einem geistig und gemütlich engen Gesichtskreise, der sich, achtlos für andrer Wohl und Wehe, einzig um das kleine Ich herzieht und immer enger zieht.

Agnete öffnete langsam die Thür – sie hatte sich auf dem kurzen Wege beständig innerlich hergesagt und vorgesagt: Vielleicht ist sie gar nicht so schlimm, vielleicht hat meine Erinnerung sie mir unangenehmer vorgemalt, als sie wirklich ist! Aber als sie der Stiefschwester gegenüber stand, packte das Gefühl würgenden, namenlosen Widerwillens sie mit solcher mörderischen Kraft, daß sie förmlich seine Krallen zu spüren vermeinte. Doch sie überwand sich mit einem Heroismus, welcher der Situation gegenüber für den oberflächlichen Beobachter kaum erklärlich gewesen wäre – sie überwand sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Schwester zu:

„Nun, Bertha!“

Die Angeredete machte keinen Versuch, die Umarmung anzunehmen oder zu erwidern – sie lächelte ironisch.

„Nun, wie komme ich zu der Ehre einer so stürmischen Begrüßung?“ frug sie mit ihrem säuerlichsten Lächeln, „das ist ja sonst nicht Mode bei dir?“

Agnete ließ die Arme sinken.

„Wir haben uns ja doch ein paar Wochen nicht gesehen,“ murmelte sie hilflos.

„Ganze drei Wochen!“ sagte Bertha mit einem Achselzucken, „du hättest mich ja übrigens hier erwarten können, wenn du so sentimental aufgelegt bist. Wo warst du denn?“

„Im Walde,“ erwiderte Agnete gepreßt – in ihr schrie eine aufrührerische Stimme fortgesetzt und betäubend: Ich kann nicht – ich kann nicht – ich kann nicht!

„Im Walde?“ frug Bertha mit einem scharfen, neugierigen Blick, „allein?“

„Wenn du mich hast kommen sehen –“ begann Agnete heftig, unterbrach sich aber: „Nein – nicht allein – mit einem Bekannten aus der Pension!“

„Mit einem jungen Herrn?“ sagte die Schwester achselzuckend; „nun das finde ich merkwürdig, das hätte ich in meiner Jugend nicht gethan! Es ist gut, daß ich jetzt hier bin – da werden die Waldspaziergänge ein Ende haben oder wir werden sie zu dreien machen. So ist es ja einfach unschicklich!“

„Mein Gott!“ rief Agnete ungestüm und verzweifelt, „ich bin sechsundzwanzig Jahr! Soll ich denn mein ganzes Leben an der Kette liegen wie ein Hund?“

„Nun, sei nicht gleich unnötig aufgeregt,“ sagte die andere und legte mit pedantischer Genauigkeit ihre Habseligkeiten in die Kommodenschübe. „Wenn die Sache einen soliden Hintergrund hat, ist es ja ganz schön!“

Agnete sah sie mit großen, wilden Augen an, wie ein gehetztes Tier. Dann wendete sie den Kopf zum Fenster und sah hinaus – mit einem Jammergefühl, als wenn sie zerbrechen müßte – innerlich und äußerlich.

Die Schwester drehte mit einer Art plumper Scherzhaftigkeit ihren Kopf zu sich: „Na – wirst du rot?“

Da Agnete aber nichts erwiderte, sondern nur mit müden, schleppenden Schritten nach der Thür ging, rief die Schwester ihr nach: „Du kommst aber bald wieder, ich kann doch nicht allein in den Saal voll fremder Menschen gehen, die mich alle anstarren. In zehn Minuten bin ich hier fertig, dann bist du wieder bei mir! Hörst du? – Hörst du?“ wiederholte sie mit erhobener Stimme.

Agnete nickte müde.

„Ich gehe ja nur nach meinem Zimmer, es ist hier nebenan,“ erwiderte sie und zog einen Augenblick die Thür hinter sich zu. „O, meine Einsamkeit!“ sagte sie schwer vor sich hin.

Bei der Abendmahlzeit waren die Plätze umgelegt. Groden saß nicht neben Agnete wie sonst immer, sondern ihr und der Schwester gegenüber – er sah auch kaum nach Agnete hin, was sie ihm im tiefsten Herzen dankte.

Desto öfter warf er einen seiner raschen, scharfen Blicke nach der Neuangekommenen. Diese beschäftigte sich in behaglicher Langsamkeit mit den vorgelegten Speisen, die sie in unangenehmer, geräuschvoller Art verzehrte. Dazwischen unterhielt sie die ganze Gesellschaft damit, daß sie sich im Heruntergehen ein Stück vom Besatz ihres Kleides abgerissen hätte und daß es seine großen Schwierigkeiten haben würde, diesen Besatz wieder passend zu ergänzen. Man hörte ihr mit mehr oder weniger gezwungener Höflichkeit zu, und schließlich begann man sich ein paar erstaunte und lächelnde Blicke zuzuwerfen, die Agnete nicht entgingen.

Sie sah flüchtig nach Groden hinüber. Er lehnte den Kopf an die Stuhllehne zurück und sah müde und verdrossen aus – Agnete fühlte einen körperlichen Stich im Herzen. – Sie macht mich unmöglich, dachte sie mit einem dumpfen, widerlichen Schmerz in sich hinein. Nach dem Abendbrot ging Agnete nach ihrem Zimmer, um der Schwester auf deren Bitte ein warmes Tuch zu holen.

Als sie zurückkam, sah sie zu ihrem heimlichen Schrecken und Erstaunen Groden und Bertha vor der Plattform miteinander auf und ab gehen. Bertha sprach anscheinend lebhaft und eifrig in ihn hinein, und er hörte ihr mit einer Art von achtungsvoller Aufmerksamkeit zu. – Ob er das um meinetwillen thut? frug sich Agnete mit einem gequälten, peinigenden Hoffnungsgefühl, das nur noch halb lebte und zum letztenmal mit den Flügeln schlug.

Sie stand unschlüssig mit dem Tuch in der Hand – sie mochte die beiden nicht ansprechen, um sich nicht den Anschein zu geben, als wollte sie mit ihnen weiter gehen; schließlich nahm sie ihren altgewohnten Platz auf dem Geländer der Balustrade wieder ein und sah in die dunklen, schlafenden Berge, die in großen, schwarzen Linien am Nachthimmel standen, und zu deren Füßen einzelne Lichter in den kleinen Häusern funkelten.

Wie anders war alles – alles!

Diese Abendstunde war sonst immer das Schönste von dem ganzen wundervollen Tage gewesen! – Da war sie immer mit Groden bis in die späte Nacht den mondweißen Weg auf und ab gegangen, von niemand begleitet als von ihren kohlschwarzen, stummen Schatten, die an den weiß schimmernden Birkenstämmen hinaufzuklettern schienen und dann wieder plötzlich, wie in spielender Unterwürfigkeit, vor den Wanderern auf dem Wege lagen. Und dann hatten die beiden kein Ende mit Sprechen und Erzählen gefunden, oder sie waren in verstehender, beredter Stille nebeneinander gegangen – einer Stille, schöner und verschwiegener als die Sommernacht selbst.

Und heute?

Heute saß sie allein – allein – allein – mit bangem, klopfendem Herzen, das ihr mit seinen Schlägen die Sekunden anzeigte und sie verlorene Zeit nannte.

Die Excellenz trat einen Augenblick zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Nun, Ihre Schwester ist hier?“ sagte sie freundlich, „da sind Sie nicht mehr so allein, liebes Kind – das ist ja schön!“

„Ja, das ist sehr schön!“ sagte Agnete.

Inzwischen waren die beiden – Groden und Bertha – immer noch auf und ab gegangen, und Groden, während er anscheinend mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit dem eintönigen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0759.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)