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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Das Wetter war umgeschlagen. Ein heulender, zorniger Sturm umtobte die ganze Nacht das einsam gelegene Haus auf der Höhe, große, wilde Regentropfen schlugen klatschend an die Fenster, die Luft war plötzlich kalt und schneidend geworden und der Kastanienbaum vor dem Hause, an dessen Pracht sich noch gestern alles erfreut hatte, streckte heute seine Aeste schwarz und kahl gegen den grauen Herbsthimmel empor. Sein Goldkleid lag in feuchten Massen zu seinen Füßen, die gewaltige Zauberin Vergänglichkeit hatte es mit erbarmungsloser Hand heruntergerissen. – Die Gesellschaft der Pension fand sich fröstelnd und über das Wetter klagend am Frühstückstisch ein; im Ofen knisterte ein mächtiges Holzfeuer, es wollte mit einem Male Winter werden!

Als alles versammelt war – Agnete und ihre Schwester erschienen ziemlich zuletzt –, kam der Oberkellner; er trug einen schönen Herbststrauß, den er vor Agnete hinstellte. „Herr von Groden läßt sich den Herrschaften allerseits empfehlen – er hat infolge eines Briefes von Hause plötzlich abreisen müssen!“

Ein plötzliches Verstummen der Tafelrunde folgte dieser überraschenden Mitteilung. – Dann richteten sich aller Augen mit mehr oder weniger Schonung auf Agnete. Sie saß ganz ruhig in ihren Stuhl zurückgelehnt – ein hochmütiges, steifes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Hände ineinandergefaltet und preßte sie fest – fest zusammen, in der Empfindung, irgend etwas fühlen zu müssen, was greifbar war, wo alles um sie her schwamm und wirbelte. Eine bestimmte Empfindung hatte sie gar nicht, nur eine ganz sonderbare, unsinnige Todesangst vor dem nächsten Wort, das gesprochen werden würde – sie dachte innerlich: wenn doch nur jetzt niemand spräche – nie mehr! – Wenn nur jetzt alle, wie verzaubert, so stumm und regungslos sitzen blieben bis in alle Ewigkeit – das wäre mir das Liebste!

Die Erste, die das allgemeine, beklemmende Schweigen unterbrach, war Bertha. „Einen Brief hat Herr von Groden bekommen?“ frug sie mit ihrer scharfen Stimme, „von wem denn? Die Morgenpost ist ja noch gar nicht hier!“

Der Oberkellner zuckte die Achseln, sein nichtssagendes Gesicht blieb glatt und unverändert, erst draußen vor der Thür kniff er das eine Auge ein und sah sehr schlau und vielwissend aus, während er mit der Miene des Bedauerns den Kopf hin und her wiegte – aber das sah niemand.

Die Unterhaltung am Frühstückstische war auffallend lahm.

Man haschte allerseits nach gleichgültigen Gesprächsgegenständen – Groden hatte die ganze Zeit über so sehr den Mittelpunkt des Interesses und der Anregung gebildet, daß man die Lücke seines Weggehens um so deutlicher empfand, weil man nicht von ihm sprechen sollte und wollte.

Agnete hielt aus – auch als ihr Scheinfrühstück längst beendet war; sie wollte heute nicht als erste hinausgehen, wie sie es sonst immer that – nein, als letzte, als allerletzte, damit sie nicht sofort zu denken hatte, daß die wohlwollenden Leute da drinnen jetzt die Köpfe zusammensteckten: „Das arme Ding! Der Vorwand war ein bißchen durchsichtig – nun hat er doch nicht Ernst gemacht“ und was man sonst noch an platter Weisheit in solchen Fällen zu sagen hat.

Bertha stand auch auf. „Ich habe meine große Sicherheitsnadel verloren,“ sagte sie verdrießlich, „hat jemand von den Herrschaften sie gefunden? Nein? Dann siehst du, Agnete, dann hast du sie doch gehabt, ich sagte es dir ja gleich! Besinne dich doch, wo kannst du sie denn gehabt haben? Ich steckte mir gestern abend noch das Tuch damit fest – besinne dich einmal!“

Agnete stand auf. „Ich werde sie suchen,“ sagte sie mit ihrer ganz alltäglichen, natürlichen Stimme, grüßte die Anwesenden mit freundlicher Kopfneigung und ging hinaus.

Bertha folgte ihr.

Die Zurückbleibenden hörten noch ihre eintönige Stimme, mit der sie die Schwester bei jedem Schritte aufforderte, sich zu besinnen, wo sie die verlorene Nadel hingethan haben könnte.

Die Damen am Frühstückstisch sahen sich vielsagend an.

„Das alte Fräulein ist eine rechte Geduldsprobe,“ sagte die Konsistorialrätin, „konnte sie denn nicht merken, daß die Schwester jetzt etwas anderes im Kopfe haben mußte als ihre Sicherheitsnadel?“

Die Excellenz zuckte die Achseln. „Die und merken!“ sagte sie; „solche Naturen merken nichts, sie sitzen in einer Schildkrötenschale von Egoismus – sie sind wie Karussellpferde, die sich ihr ganzes Leben um einen Punkt bewegen – die verlernen es auch, nach rechts oder nach links zu sehen!“

„Das arme, reizende Mädchen – diese Agnete!“ bemerkte eine der anderen Damen mitleidig, „sie trug es ja bewunderungswürdig, aber sie sah doch schrecklich aus!“

„Schrecklich!“ pflichtete die Majorin bei, „das Gesicht wurde förmlich grau und schlaff in dem Augenblick!“

„Ich habe sie nicht angesehen,“ sagte die Excellenz und erhob sich, „ich mag keinen Menschen sterben sehen, dem ich nicht helfen kann – und der kann man nicht helfen! Sie würde empört sein, wenn man es ihr auch nur andeutete, daß man wagt, Mitleid mit ihr zu haben. Die stirbt auf ihrer Fahne – da ist Rasse drin!“ Die alte Dame ging hinaus und bestellte ihre Hotelrechnung – sie konnte ja jetzt ruhig abreisen: der „kleine Roman“, dessen Entwicklung sie mit so viel Amüsement beobachtet hatte, war augenscheinlich zu Ende – und die Tage wurden ja auch schon sehr kurz.


Agnete hatte inzwischen einen Augenblick gefunden, wo sie, von der Schwester unbemerkt, das Haus verlassen konnte. Sie mußte eine halbe Stunde allein sein – nur eine armselige halbe Stunde – der arme Galeerensklave! Dies Fragen und Quälen nach der verlorenen Nadel hatte sie fast um den Verstand gebracht; das beständige eintönige Wiederholen der Aufforderung „Besinne dich doch!“ war ihr plötzlich so körperlich unerträglich geworden, sie hatte die Empfindung, daß sie, wenn sie diese Worte noch ein einziges Mal mit anhören müßte, laut aufschreien würde, als wenn sie von Sinnen wäre!

Da war sie fortgestürzt – mit unbedecktem Kopf, ohne sich die Zeit zu lassen, auch nur den Hut vom Nagel zu nehmen – ziellos – wahllos – nur fort – fort! – fort! –

Sie fand sich im Walde wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, und sah sich mit verstörten, fragenden, verwunderten Augen um: war das noch derselbe Wald, in dem sie gestern im glühenden Sonnenschein unter dem gold und roten Baldachin der Baumkronen hingewandelt war? Alles sah zerstört und verwüstet aus, der Regen rieselte fein und kalt und unablässig hernieder, er legte sich wie eisige Fingerspitzen auf Agnetens unbedeckten Kopf. Die Blätter, ihres trügerischen Scheindaseins überdrüssig, fielen, wie sterbende Schmetterlinge, müde und flatternd auf den nassen, braunen Boden, der Fuß versank bei jedem Schritt in dem aufgeweichten Wege – es war ein mühseliges Gehen.

Agnete sah und empfand das alles, aber wie unbewußt, wie weit fort, wie wenn es jemand anders erlebte. Und dann erschien es ihr wieder so ganz natürlich, daß die Welt über Nacht eine so andere geworden war. Daß eine Herbstnacht genügt, um einen Wald und ein Schicksal zu vernichten – das brauchte keine äußere Erfahrung sie mehr zu lehren. Sie dachte auch nicht darüber nach, sie irrte nur in verzweifelter, heimatloser Sehnsucht umher, in Sehnsucht nach jemand oder etwas, das wußte, wie ihr zu Mute war, zu dem sie sprechen konnte.

Und als sie plötzlich, sich selbst überraschend, vor ihrem Lieblingsbaume stand, da war es ihr wie der Königstochter im Märchen, die dem eisernen Ofen ihr Leid klagt – sie legte beide Arme um den schlanken, geraden Stamm und sah mit ihren verzweifelten Augen zu der Krone in die Höhe. Sie sah auch zerzaust und traurig aus: den einen grünen Zweig hatte der Sturm heute nacht geknickt, er hing kläglich herunter, und der Wind warf ihn achtlos, wie spielend, hin und her.

Agnete nickte hinauf. „So bin ich auch!“ sagte sie, „wir hatten beide noch einen grünen Busch auf dem Hute – du und ich –, du Blätter – ich Hoffnung – nun ist es fort – nun haben wir beide die Flagge auf Halbmast – du und ich.“

Sie faßte den Stamm mit beiden Händen und rüttelte daran. „Er ist fort!“ sagte sie laut und verzweifelt, „er ist fort! Hörst du das? Ohne Abschied – ohne ein Wort! Er hätte mir doch Lebewohl sagen können, aber er fürchtete wohl, ich würde ihm eine Scene machen – und er liebt ja keine Scenen und keine Emotionen. Fort! das ist solch ein kurzes Wort, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0762.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)