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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

solch ein langes Elend! Und warum darf denn das sein? Warum darf denn ein Mensch den andern wie einen Spielball nehmen und sich damit die Zeit vertreiben – ein paar Stunden – ein paar Wochen, und ihn dann in die Ecke werfen zu altem Gerümpel, daß er dort verkommt und verstaubt? Und was haben diese paar Wochen – was hat er aus mir gemacht? Ein Mädchen, das den Kopf nicht mehr hoch halten kann und hoch halten mag – ein Mädchen, das sich aus einem Manne mehr gemacht hat als er aus ihr – das ist so schrecklich, so niedrig – das kann man nicht einmal aussprechen! Man schämt sich noch mehr, als man sich grämt! Es ist nicht einmal traurig allein – es ist so häßlich! Und die Leute können sich noch darüber amüsieren – ,ja, warum sind die Mädchen so leichtgläubig!‘ Doch er geht jetzt hin und denkt nicht mehr daran – oder wenigstens nicht viel – und dann, nach ein paar Wochen, sagt er: ,Das war ein nettes Mädchen da oben im Thüringer Wald – ich habe ihr hoffentlich nichts in den Kopf gesetzt – es ist ihr hoffentlich nicht tief gegangen!‘ – ja – hoffentlich!“

Sie ließ sich an dem Stamme niedergleiten und legte den Kopf auf die Arme – sie achtete nicht auf den kalten Boden und auf die Nässe, die sich wie ein Tuch um sie herlegte – ihr war so schwer, so müde, so zerschlagen, als wenn sie eine Krankheit durchgemacht hätte – so stumpf und dumpf. Wie lange sie so dagelegen hatte, wußte sie selbst nicht – ihrem Gefühl nach konnten es ebensogut Sekunden als Jahre gewesen sein. Da fühlte sie sich plötzlich unsanft an der Schulter gefaßt.

„Hier liegst du, in der Nässe? Du willst dich wohl zu Tode erkälten? Alt genug wärst du doch, um vernünftig zu sein!“

Agnete erhob den Kopf und starrte der Schwester ins Gesicht, wie aufwachend, dann stand sie auf – sie sah so schmal und schlank aus, als wenn sie in den letzten Stunden gewachsen wäre.

„Du hast vollkommen recht,“ sagte sie in einem rätselhaften, kalten Tone, „alt genug wäre ich, um vernünftig zu sein!“

„Nun komme jetzt nur mit,“ fuhr die Schwester fort, „wir wollen nach Hause gehen – bei dem Wetter gehört man an den Ofen! Ich kann doch nicht den ganzen Morgen mit den fremden hochnäsigen Leuten allein sitzen. – Ich habe übrigens meine Sicherheitsnadel noch nicht gefunden!“ setzte sie mißvergnügt hinzu; „wenn ich nicht erst gestern angekommen wäre, würde ich denken, du hast sie auf einem deiner Spaziergänge mit dem abgedampften Verehrer mitgehabt, da könnte ich freilich lange suchen!“

Agnete erwiderte nichts.

„Na – sei nur nicht pikiert!“ sagte Bertha gleichmütig, „mit so etwas muß man sich necken lassen – das ist einmal nicht anders. Komisch übrigens, daß der so plötzlich abgereist ist – hat er dir gar keine Andeutung gemacht?“

„Bertha!“ sagte Agnete plötzlich mit harter Stimme, „du weißt, ich bitte nicht oft und nicht gern, aber ich bitte dich jetzt um etwas: sprich nicht mehr mit mir von – Groden!“

„Und warum nicht?“ frug die andere mit ihrem unangenehmsten Lächeln.

„Es langweilt mich –!“ sagte Agnete rauh.

„Nun, mich amüsiert es auch nicht,“ erwiderte Bertha gekniffen und schwieg eine Weile.

Agnete legte im Weitergehen die Hände an die hämmernden Schläfen und preßte sie fest zusammen.

„Na ja – du hast dich erkältet,“ sagte Bertha, „in dem nassen Grase – nun kann ich hier noch Krankenpflegerin spielen!“

Agnete biß sich fast die Lippen durch. „Großer Gott!“ murmelte sie vor sich hin, dann wandte sie sich an Bertha: „Wäre es dir nicht recht, wenn wir abreisten? – Die Abende sind schon so lang – thue es mir zuliebe – ich möchte es so sehr gern!“

Die andere sah sie groß an. „Abreisen? wo ich gestern erst angekommen bin? Nein, da muß ich denn doch danken! Seit wann sind denn die Abende so lang? Etwa seit ich hier bin? Jetzt hast du dich drei Wochen amüsiert, dir die Cour machen lassen – nun reist der Courmacher ab, und nun möchten wir gleich hinterdrein – nein, das verlange doch, bitte, nicht von mir!“

„Schön!“ sagte Agnete, „wir bleiben!“

Und sie blieben – sie saßen die kurzen Tage und die langen Abende in dem frostigen Konversationszimmer, sie sprachen von früh bis abends über das Wetter und warteten auf den Sonnenschein – er kam nicht! Statt seiner kam der traurige, grausame Spätherbst, er schüttelte die letzten Blätterreste von den Bäumen – häßlich, welk und unansehnlich lag die Goldpracht am Boden und moderte in den Winter hinein. Die Krähen flogen mit schweren, schwarzen Flügeln müde und heiser kreischend über den Wald, der Boden weichte auf, täglich verschlang der lange, trübe Abend ein Stückchen mehr von dem kurzen, trüben Tage.

Die Pensionsbewohner rüsteten einer nach dem andern zur Abreise, der Tisch wurde verkleinert – endlich erklärte Bertha eines Morgens, sie wollten auch heimkehren und ihr Bündel schnüren. Agnete nahm es ohne weitere Aeußerung hin. Ob sie den Winter über hier verbrachte, oder ob sie in die Stadt zurückging – es blieb sich gleich, sie verließ nichts, und es erwartete sie nichts! „Alles prallt von mir ab – Freude – Kummer – Aerger – das Sonderbare dabei ist nur, daß man das leben nennen soll!“ dachte sie in sich hinein.

Als sie dann im Wagen saßen und die Abschiedsgrüße der Wirtsleute und der wenigen Pensionsgäste entgegennahmen, die noch zurückblieben, stieg ein kalter, weißlicher Nebel aus dem Thale auf, der mit jeder Minute dichter zu werden schien. – Agnete hatte sich auf den Rücksitz des Wagens gesetzt, um beim Hinunterfahren die Pension noch so lange zu sehen, wie sie irgend konnte. Bertha arrangierte sich im Fond mit ihren zahlreichen Schachteln, Taschen und Paketen. Zwischendurch forderte sie Agnete wiederholt auf, etwas zu genießen. „Du wirst schwach werden,“ sagte sie wieder und wieder in ihrer zähen, beharrlichen Art.

Agnete lächelte müde. „Sei unbesorgt – ich bin stark,“ erwiderte sie und versank wieder in ihre eigenen Gedanken – in jene eine, einzige Welt, wohin ihr niemand folgen konnte – ihr einziges Stückchen Eigentum auf der ganzen, reichen, weiten Erde!

Ihre Augen waren fest auf das Haus gerichtet, in dem sie ihre letzte Blütezeit verlebt hatte. Dort in dem kleinen Hause mit dem trotzigen Dach, um das jetzt der Herbstnebel so wallte und wogte, dort hatte sie das Glück gefunden – und das Glück verloren!

„Das Glück!“ dachte sie heimlich vor sich hin, „woran ist es für mich gescheitert? An Geld – an Wohlleben – an Testamentsbestimmungen – an dem, was man so gemeinhin ‚die Verhältnisse‘ nennt! – Daß das Glück – das Größeste, Heiligste, was der Mensch haben kann, überhaupt mit solchen Dingen zusammen genannt werden darf – daß es von solchen Aeußerlichkeiten vernichtet werden kann, wie eine seltene Pflanze oder ein schöner Mensch von Pferdehufen zermalmt und zertreten wird – das habe ich früher nie verstehen können! Ich hatte immer gedacht, das Glück müßte sich über alles Aeußerliche, was es hemmen will, mit klaren, goldigen Schwingen erheben – in die Luft flattern und alles im Staube liegen lassen, was an diese Flügel rühren will. Und nun liegt es da – zerbrochen und zerknickt – mein armes – armes Glück! – Und ich habe es doch gehabt!“ dachte sie mit einem gewissen Trotz weiter, „ich bin acht Tage lang ganz glücklich gewesen, ich habe an der halboffenen Thür des Märchenreiches gestanden und mit dem Finger daran getippt – und die acht Tage haben ihn vergoldet! Acht Tage habe ich gelebt – es giebt ja Menschen genug, die nicht einen einzigen Tag leben!“

„Agnete,“ sagte Bertha, „setze dich doch zu mir in den Fond, ich möchte die helle Tasche dorthin legen, wo du sitzest – hier wird sie gedrückt.“

„Ich wollte gern das Haus noch sehen, bis wir um die Ecke gebogen sind,“ erwiderte Agnete schüchtern.

„Ach, das sind ja Gefühlsduseleien – du bist doch kein Backfisch mehr! Was siehst du an dem Hause? Ich habe eine Photographie davon mitgenommen, da kannst du es dir noch oft ansehen!“

Agnete schwieg.

„Setze dich hierher,“ beharrte Bertha, „die Tasche muß dort drüben liegen, sie wird gedrückt, ich sehe es schon!“

„Laß – ich komme!“ sagte Agnete müde, stand auf und setzte sich neben die Schwester.

Die Pension war verschwunden – vor ihnen lag das Thal – der Nebel stieg – stieg – stieg –, er hüllte den Weg, den Wald, den Wagen, das Leben ein – die Welt versank in seinem weichen, grauen Schleier, und das einzige, was Agnete hörte, war das leise Klirren der Ketten, die sie wieder festschmiedeten – Galeerensklave!


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0763.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)