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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

träumt immer so schwer von einem Tiroler. Dann muß ich ihm das Kind ins Bett geben.“

Lügt sie oder redet sie die Wahrheit? – Allmählich horchen auch die ernsthafteren Leute darauf. – Wie man aber Pia einmal ernsthaft ausforschen will, da ist sie verschwunden, da wandert sie schon über die Berge, folgt sie dem einzigen holden Gedanken, der in ihrer niedern Stirne Raum gefunden hat: der Liebe zu ihrem Bruder – sie hat um seinetwillen selbst ihre abergläubische Furcht vor Markus Paltram besiegt.

„Mutter – wo?“ fragt ein kleiner Plaudermund – die entzückende kleine Jolande. – Das zierliche, schmale Gemschen mit den Gliederchen wie biegsamer Stahl und den Augen wie Licht, mit dem Stimmchen wie Silber.

Markus Paltram ist wütend auf sein Weib, das von diesem lieblichen Schwarzköpfchen ohne eine Regung der Mutterliebe hat weglaufen können.

Aber auch das hat er wohl um Cilgia verdient!

Er geht nicht auf die Jagd, bis er eine rechtschaffene Frau als Hüterin für Landola, wie er Jolande kosend nennt, gefunden hat. Nein, dem Haupte der Kleinen, die er mehr liebt als einst Märklein, darf kein Leid geschehen!

Mit allen Fasern hängt er an dem feinen Kind, und ebenso hängt es an ihm.

Wo aber ist Pia? – Eines Tages traf der Brief eines St. Moritzers ein, der zu Köln ein Café besaß: die ehemalige Geißhirtin von Pontresina, die er als Junge gekannt, sei auf einem Rheinfloß angekommen und ihm zugeführt worden. Mit einem Warenfuhrwerk habe er sie nach Bremen geschickt, dort werden Bündner weiter für sie sorgen.

Sicher und unbeirrt geht dieses merkwürdige Weib seinen Weg.

Um Markus Paltram aber weben sich die Gerüchte, die Sagen, die Anklagen dichter und dichter.

Er ist im Herbst angeschossen aus den Bergen zurückgekommen. Man spricht jetzt überall davon.

Wer kennt die Geheimnisse des großen Gebirgs? – Jahr um Jahr gehen in seinen Stürmen Menschenleben verloren, man weiß nicht, wie! – Jägertragödien, für die es keinen Richter giebt, weil kein Kläger da ist, weil die Felsen und Gletscher nicht reden, hat es, wo die Jagdreviere der Länder zusammenstoßen, immer gegeben. Sie leben in der Ueberlieferung des Volkes und werden sich ereignen, so lange die Büchse dem Wiederhall in den Felsen ruft.

Im blutigen Schein einer Jägertragödie steht Markus Paltram vor der Witterung des Volkes.

Aber niemand wagt es, das Verschwinden Grubers mit dem Gerücht, daß Markus Paltram einen Jäger erschossen habe, zu verbinden.

Gruber verschwand in Bormio – er trug kein Gewehr – er ging, da er kein Recht dazu besaß, nie auf die Jagd – und sein Fall ist ja durch die Missethat, die er an Pejder Golzi verübt hat, erklärt.

Ja, vielleicht ist alles, was man über Markus Paltram sagt, nur üble Nachrede – und er hüllt sich nur in das verachtungsvolle Schweigen, damit er um so mehr der gefürchtete Herr der Bernina sei!

Und andere Dinge geben den Leuten des Engadins mehr zu sprechen als Markus Paltram.

Es ist eine bewegte Zeit der Bündnerpolitik. Eben haben es die Abgesandten des Engadins, vor allem der jugendliche Staatsmann Luzius von Planta und der stille, zähe Saratz, vor dem Rat in Chur durchgesetzt, daß man eine Fahrstraße von Chur über die Berge ins Engadin und von da nach Italien bauen will.

Ein Hoffnungsstrahl durchfliegt das sich entvölkernde Thal.

Dem Beschluß zu Ehren will man ein kleines Schützenfest veranstalten und die übliche Kehrfolge trifft Madulein, den Heimatsort Markus Paltrams.

Eines Sommertags kommt er, eine Gemse auf dem Rücken, nach Samaden. Er tritt auf den Vorplatz des Gasthauses zur Krone, wo eine kleine Gesellschaft von Bürgern Kegel schiebt, und trinkt etwas Wein, den er stark mit Wasser mischt.

Da meint einer: „Markus, Ihr kommt doch auch zu dem Schießen nach Madulein; ehe wir alle aus dem Engadin wandern, wollen wir noch prüfen, wie die Stutzen gehen.“

„Ich komme,“ antwortet er gut gelaunt und ruhig.

Da fängt Doktor Troll, einer der Kegler, an zu spitzeln, denn er hat den alten Zusammenstoß am Lager Pias nicht vergessen – ein Wort ruft das andere.

„Paltram,“ höhnt der Doktor, „ehe Ihr Euch mit uns zusammensetzt, reinigt Euch vor Gericht – man sagt, es klebe Blut an Euch!“

„Doktor,“ lächelt Paltram, mit einem sonderbaren Aufleuchten der Augen, „dieser Schimpf bleibt nicht ungestraft – verlaßt Euch drauf!“

„Habt Ihr keinen getötet?“ hßhnt der Doktor.

„Doktor,“ antwortet Markus Paltram ernst, „das ist zwischen Gott und mir!“

Damit geht er und läßt die andern in grenzenloser Verblüffung, denn seine Worte klingen wie ein Bekenntnis. Aber wen hat er getötet? – wo? – wann?

Wenn er nicht selber spricht, wird es niemand erfahren – niemand wird seine Schuld, seine Verantwortung kennen.

Aber das Gerücht ist wieder frisch, und schon gellt seinetwegen wieder ein Schrei der Entrüstung durchs Thal.

Doktor Troll fährt in halbdunkler Nacht von St. Moritz nach Samaden. Er raucht und leitet sein Pferd.

Da kracht, wie er an den Häusern von Celerina vorüberfährt, ein Schuß.

Der Kopf der Pfeife ist hinweg.

Der erschrockene Doktor bändigt mit Mühe sein Roß.

Markus Paltram tritt mit höflichem Gruß auf ihn zu: „Guten Abend, Herr Doktor. Es ist nur die Quittung für Samaden – jetzt Frieden!“

Die Leute des Dörfchens aber, die den Schuß gehört haben, eilen herbei.

„Ich habe ein Käuzchen schießen wollen,“ erzählt Markus Paltram, der finstere Mann, mit schalkhaftem Lächeln, „da kam gerade das Fuhrwerk dazwischen – das Pfeifchen des Doktors ist hin.“

Dann geht er.

Ein unglaublicher Schuß im nächtlichen Dunkel! Die Leute schütteln die Köpfe: es kann nicht sein! – Aber hat Markus Paltram als Junge zu Madulein nicht oft genug seinem Bruder in brüderlichem Scherz das Thonpfeifchen vom Munde mit der Kugel hinweggeblasen?

Wer ist er, der so ein sträfliches Spiel mit dem Menschenleben treiben darf und den Gerichten mit den Worten trotzt: „Bringt Zeugen“?

Im Volke gärt es gegen Markus Paltram.

Da kommt das Schießen von Madulein, und hoch aufgerichtet, eine männlich schöne Gestalt wie die eines Helden der Vorzeit, erscheint der graue Jäger und tritt unter sein Volk.

Da gehen ihm die Leiter des Festes, seine Heimatsgenossen, entgegen: „Markus Paltram, du bist ausgeschlossen vom Schuß!“

„Mir das?“

Er wird blaß und seine Augen haben den camogaskerhaften Glanz.

Man fürchtet ein Unglück.

„Du weißt warum – die andern verlassen das Fest, wenn du nicht gehst.“

„Ich gehe – ich gehe!“ schreit er, „auf Wiedersehen in der Bernina!“

Das tönt, wie wenn er sprechen würde: „Tod euch allen!“ Das tönt finster und schrecklich.

„Bist du der Herr der Bernina – ihr König?“

„Das werdet ihr sehen!“ knirscht er, richtet sich hoch auf und sieht sich mit kaltem Zorne um – mit einem Blick, der die harten Männer erschüttert.

„Ja, ich bin der König der Bernina,“ sagt sein Auge.

Mitten in einer unheimlichen Stille geht er. Das Band zwischen ihm und seiner Heimat ist zerrissen, und in dumpfen Lauten und Wogen rollt der Zorn der Zurückgebliebenen, siedet das schwer erregbare Bündnergeblüt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0775.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)