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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 28.   1899.


An des Jahrhunderts Neige.

Wenn mit dem zwölften mitternächt’gen Schlag
Sich zum vergehen das Jahrhundert wendet
Und müde seinen allerletzten Tag
Im Dunkel eines Wintertraumes endet:

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Dann schwingt sich, wo ihn keiner sehen mag,

Ein Riesendämon, dessen Glutblick blendet,
Und dessen Stimme laut wie Donner gellt,
Herüber zur verschlafnen Menschenwelt.

Tiefschattend über beide Pole breiten

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Sich seine Flügel, schwarz, verhängnisschwer;

Gebietend ruft er, und aus Grüften gleiten
Gehorsam des Jahrhunderts Kinder her;
Als menschenähnliche Gebilde schreiten
Sie vor sein Äuge, mehr und immer mehr;

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Dann spricht er – und es tönt bald wie Posaunen,

Bald so, wie Tote aus den Gräbern raunen:

„Verderben hab ich reichlich ausgesandt
In jeden Teil der Welt seit hundert Jahren;
Aus jedem Abgrund hab’ ich losgebannt,

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Was drunten schlief an Schrecknis und Gefahren;

Nun will ich, zur Vergangenheit gewandt,
Hier Heerschau halten über meine Scharen!
Was ich der Welt an Not und Grausen schuf,
Das steig’ empor, gehorsam meinem Ruf!

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Und sieh – ein Bug undeutlicher Gestalten

Zieht langsam her, der wie von Eisen klirrt;
Es träuft wie Mut von ihrer Mantel Falten,
Ihr Hauch ist Mord, ein Schwarm von Raben schwirrt
Um sie; das Schwert, das ihre Fäuste halten,

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Ist schartig; ein unheimlich Blitzen irrt

Aus ihrem Blick; der Dämon aber spricht:
„So grüß’ ich euch vor meinem Angesicht!“

„Ich schuf den Völkerhaß; der mag nicht weichen;
Höchst glorreich fing er das Jahrhundert an;

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Das stand schmerzstöhnend unter seinem Zeichen;

Auf hundert hartumkämpften Feldern rann
Das Blut von Tapfren unter seinen Streichen,
Und in die fernste Zukunft reicht mein Bann,
Denn aus dem Jammer meiner alten Thaten

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Erwachsen immer neue Unheilsaaten!


So ließ ich Millionen Thränen rinnen;
Es ist kein Volk, dem ich nicht Wunden schlug!
Wer Sieger war – ich konnte nur gewinnen!
Selbst über Meere flog ich grausen Flug!

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Und neues Mordzeug denk’ ich zu ersinnen,

Es schlägt mein Schwert mir noch nicht scharf genug,
Mit breit’ren Waffen will ich mähen, mähen,
Und als Zermalmer durch die Zukunft gehen!

Verschwindet, Schatten! Laßt uns weiter schauen!

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Trotz alles Schweißes seh’ ich blasse Not,

Gebeugte Männer, arbeitsmüde Frauen;
Zerlumpte Kinder balgen sich um Brot!
Auf Stroh in Winkeln kauern Schmutz und Grauen,
Und Scharen treibt der Hunger in den Tod,

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Indessen haßerfüllt nach ihren Zielen

Der Anarchisten blanke Dolche spielen!

Dann seh’ ich, wie trotz aller Wissenschaft
Die Seuchen sich in Riesenstädten fristen;
Ich sehe, von den Gassen aufgerafft,

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Giftstoffe sich in alle Häuser nisten;

Mit hohlen Augen und gelähmter Kraft
Seh’ ich die Säufer und die Morphinisten;
Ein ganz Geschlecht von Krüppeln, Irren, Siechen
Seh’ ich zermürbt in frühe Gräber Kriechen!

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Und was die Krankheit nicht zu Ende brachte,

Das ist dem seelischen Verfall geweiht,
Der dies Jahrhundert schier zur Dirne machte
Mit seinem Sumpf von hohler Eitelkeit,
Von Spottsucht, die das Heiligste verlachte,

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Von Strebertum, Genußsucht, Schimpf und Streit,

Von Volksverderbern und von Lasterzüchtern!
Von feilen Blättern und bestoch’nen Richtern!

Doch daß der armen Menschheit nicht allein
Die Schuld an ihrem Niedergang verbleibe,

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Rief ich den Zufall, daß er helfend sein

Wahnwitzig Spiel mit ihrem Unheil treibe,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 869. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0869.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2023)