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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Von den Dörfern strömt die schwarzgekleidete Menge nach Pontresina, die malerischen Bergamasken steigen von den Bergen und die letzten Sommergäste von St. Moritz mischen sich unter das einheimische Volk.

Frau Cilgia geht in der Schar.

Zum Kirchlein Santa Maria empor tragen Jünglinge den schwarzen, mit Alpenblumen bedeckten Sarg. Die Sterne des Edelweißes leuchten aus tiefblauen Enzianen und die glühenden Bergnelken funkeln.

Die man begräbt, war keusch wie das Edelweiß, sie war voll reichen Schweigens wie der Enzian, ihr Herz so feurig wie die Bergnelke.

Hinter dem Sarg schreitet Markus Paltram, der Furchtbare, der Gewaltige – der Herr der Bernina. Erhobenen Hauptes, doch mit tiefen Furchen im ehernen Antlitz, in erhabener Trauer schreitet er mit der letzten Kraft.

Und wie die Jünglinge den Sarg auf dem Kirchhof von Santa Maria abstellen, die Gemeinde sich mit entblößten Häuptern im Kreise sammelt, da fliegen ihm die scheuen Blicke des Volkes zu. Jedermann spürt es: der Tod Jolandes ist kein zufälliger, höhere Hände haben über dem einsamen Sterben des Kindes gewaltet – sein Tod ist der letzte Stempel auf den Losen Markus Paltrams.

Wer aber mag ihn richten, den Helden, den Retter? Gewältig groß ist die Bergwelt mit den weißen Flammen der Firne, mit den dunklen, ringenden Gestalten der Arve auf den Felsen, mit den Gletscherspalten, in denen die Wasser geheimnisvoll verklingen, mit dem unergründlichen Sternhimmel über blassen Gipfeln, mit den zuckenden Blitzruten der Wetternächte, mit den Sagen des friedlosen Ritters und des Liebespaares, dem am Ende der Tage zu wandeln beschieden ist.

Muß da nicht von Zeit zu Zeit einer aufstehen, in dem die Kräfte des geheimnisreichen, in Lawinen donnernden, in dunklen Lauten seufzenden Gebirges Schicksal werden?

In Markus Paltram ist die Urgewalt der Berge Mensch geworden. Und was auch im Tode Jolandes gerächt worden sei, was auch das große Gebirge mit seinem Schweigen an schweren Ereignissen verhüllen mag – die Verteidigungsrede des Lebens ist stärker als die Anklage des Todes.

Dreiunddreißig hat Markus Paltram aus dem Verderben gerettet – und aus seinen Thaten erblühte das frische Leben eines ganzen Thales.

So urteilt die trauernde Schar von Santa Maria.

Am Sarge Jolandes betet der greise Pfarrer Jakob Taß. Und er spricht mit der hoffnungsreichen Zuversicht des Mannes, der stets an ein letztes schönes Ziel alles Daseins geglaubt hat: „Ueber den Sternen hält die Liebe Wort!“

Da schluchzt Markus Paltram vor allem Volke auf und schwankt – und die nächsten müssen ihn halten – der felsenfeste Mann ist schwach geworden.

Mächtig erschüttert das Bild, es ergreift die Herzen wie Schicksalswende.

Und es ist Schicksalswende! –

Im lichten, goldenen Gebirgsabend schreitet vom Pfarrhaus eine hohe Frauengestalt durch die alten Gassen von Pontresina gegen das graue Kirchlein Santa Maria empor. Und die Dörfler grüßen ehrfurchtsvoll.

„Cilgia Premont,“ flüstern sie.

Und sie erzählen von dem schönen, lebensfreudigen Fräulein, das vor vielen Jahren mit dem Lateinbuch nach Santa Maria emporgeschritten sei und die Geißen abgeholt habe.

„Man wußte schon damals, daß sie eine Besondere sei; aber daß sie helfen würde, St. Moritzbad zu gründen, daß sie eine ganze Gemeinde heben und ihr Gedeihen geben würde, das dachte niemand!“

So sprechen sie hinter der Schreitenden.

Sie ist kein junges Mädchen mehr – statt in gelehrten Büchern hat sie im Buch des Lebens gelesen, das schwerer ist, und die grauen Fäden haben sich darüber in die Kastanienhaare gemischt. Aber ihre Haltung ist stolz wie einst, der Gang leicht und anmutsvoll, und die goldbraunen Augen haben ihren Glanz bewahrt und schauen, allerdings sanfter und von Schicksalen umflort, immer noch gläubig siegreich in die Welt.

Aber es ist doch eine wohlthuende Gestalt mit der Schönheit eines überlegenen Sinns und vornehmer Güte, eine Gestalt, von der Leuchten und Wärme ausgeht.

Ein Schein der Jugend ist immer noch über Cilgia Premont, wie das Licht am Firn, wenn der Tag schon vergangen ist.

Sie träumt auf der Bank am alten Thor von Santa Maria, dem Ort, der schön und stimmungsvoll ist, wenn sich die Gipfel der Bernina röten.

Aus dem Bergwald kommen, von einer jungen Hirtin geführt, mit Geschell die Ziegen.

Da weckt ein Ton Cilgia aus dem Bilderzug der Erinnerungen.

Malepart, der Wolfshund Markus Paltrams, das alte schäbige Tier, heult am Gitter des Kirchhofs.

„Er sucht seine junge Herrin.“ Cilgia öffnet ihm das Thor – sie tritt selber in das stille Reich der Toten.

Da – am frischen Grabhügel kniet, den Kopf in die Blumen gebeugt, Markus Paltram.

Sie zagt einen Augenblick – sie tritt näher – sie flüstert: „Markus!“

Er rührt sich, stöhnend will er das Haupt erheben – es geht nicht. Sie stützt ihn, und erst jetzt sieht er sie.

„O, Cilgia, der Untergang ist da – die Liebenden dürfen wandeln – aber nur einen Tag – Cilgia – nur einen Tag!“

Und sie blickt in ein verfärbtes Gesicht. „Soll ich Hilfe holen, Markus?“

„Nein – bleibe bei mir, Cilgia!“ bittet er flehentlich. Er erhebt sich plötzlich – er steht schwankend. „Gute Nacht, Jolande – du mußt nicht lange warten. Ich komme, Kind!“

Und wie ein Trunkener geht er gegen das Thor. Sie stützt ihn. Langsam schreitet das Paar in der Dämmerung gegen die Hütte mit dem Wasserrad.

Am Morgen verbreitet sich die Nachricht: Markus PaÜran, der König der Bernina, ist am Sterben – Cilgia Premont, mit der er vor vielen Jahren einmal verlobt war, wartet ihn zu Ende.

Sie wartet ihn zu Ende!

Und zusammen wandeln, die sich liebten, noch einmal den langen schmerzensreichen Weg des Lebens hinab von der Bergzinne von Fetan bis an diesen letzten Tag.

Markus Paltram stöhnt:

„Ich schlug dich und unterlag – du liebtest, du siegtest – o, Cilgia, du bist stärker als Katharina Dianti! Du hast die dunkle Seele des Camogaskers mit Licht erfüllt – du hast mir die Kraft zu ein paar guten Thaten gegeben – die Flamme wollte ich dir holen vom Bernina – aber, ach, meine Hände waren nicht rein genug, und ich mußte Gruber schlagen! Das war die schwerste Stunde – da wußte ich: das Schicksal ist über mir! Ich trug den Blutschein, den mir das Volk gegeben hat, wie eine Strafe. – Und deinen Sohn klage ich nicht an – es ist geschehen, was geschehen mußte: die Ueberhebung, die Untreue hat Frucht getragen – und meine Landola ist im Gletscher vergangen.“

Die Thränen Cilgias benetzen seine eingefallenen Wangen, und ihre Hand hält die seine umschlungen.

Erst nach einer Weile spricht er wieder:

„Ist das nicht sonderbar, daß ich im Bette sterben muß – ich, der Jäger – ich meinte, ich würde einst in den Felsen enden – aber es ist eine große Güte – und du bist da, Cilgia!“

„Still – still – Markus, es giebt nur ein Unglück in meinem Leben – es ist das, daß ich dich nicht habe glücklich machen können, du mein wilder Markus!“

Ein Strahl kommt aus den Augen Markus Paltrams – er wird ruhiger – und der Tag will sinken.

Da horch – von ferne tönt ein weiches Lied.

Die Freunde des ehemaligen Jugendbundes sind zusammengekommen – ohne einen Abschiedsgruß soll Markus Paltram nicht scheiden. Ihre Gesänge rauschen wie Traum aus der Ferne. Und die Berge der Bernina glühen, als blühten die Alpenrosen bis zu ihren Gipfeln – nein, als brächen lebendige Flammen hervor!

In überirdischem Glänze stehen Gebirge und Thal – und die Lieder klingen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0874.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2017)