Seite:Ficker Vom Reichsfürstenstande 048.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

stossen, wenn wir danach etwa schon die Verhältnisse des zwölften Jahrhunderts bemessen oder sie noch mit Strenge für das vierzehnte festhalten wollen? Selbst angenommen, dass ihre Theorieen wenigstens für ihre Zeit vollkommen richtig sind, so werden sie doch schwerlich ausreichen, um alle Fragen, deren Beantwortung uns Bedürfniss ist, zu lösen; abgesehen von Vielem, das sie überhaupt unberührt lassen, genügen ihre Angaben nicht mehr, sobald es gilt, den allgemeinen Satz auf den Einzelfall anzuwenden; geben sie die allgemeinen Erfordernisse des Fürstenstandes an, so bieten sie nicht zugleich die Mittel zur Entscheidung, bei welchen einzelnen Grossen nun diese Erfordernisse zutrafen.

Dass dennoch für die Erörterung unseres Gegenstandes die Lehren der Rechtsbücher den Hauptanhaltspunkt bieten müssen, ist nicht zu verkennen, und eine Vergleichung ihrer Theorieen mit dem anderweitig bezeugten thatsächlichen Rechtszustande habe ich denn auch vorzugsweise im Auge. Aber eben desshalb glaube ich, sie um so weniger als genügend beglaubigten Ausgangspunkt hinstellen zu dürfen; um die Richtigkeit dessen prüfen zu können, was sie über Rechte und Erfordernisse des Fürstenstandes angeben, wird vor allem erforderlich sein, ganz unabhängig von ihnen zu untersuchen, wer Fürst war, und wer nicht. Wo wir dafür den Ausgangspunkt zu suchen haben, kann kaum zweifelhaft sein. Nur in der Reichskanzlei selbst werden wir die zuverlässigste, durch keine örtliche Verschiedenheiten beeinflusste Kenntniss und Beachtung der hier massgebenden Standesunterschiede voraussetzen können; die aus ihr hervorgegangenen Schriftstücke werden uns zur Richtschnur dienen müssen. Irgend Zusammenhängendes über unsern Gegenstand ist von dieser Seite freilich nicht erhalten; wie leicht wäre es den Reichsnotaren gewesen, das zusammenzustellen, was jedem Mitgliede der Kanzlei über die Reichsverfassung zu wissen nöthig war; wie sehr würden unsere Kenntnisse gefördert sein, hätten wir über die Regierung auch nur eines unserer Könige eine aus dessen Kanzlei hervorgegangene, und mit gleicher Kenntniss und Beachtung der Verhältnisse des öffentlichen Rechts abgefasste Darstellung, wie sie uns für einen engern Kreis die Aufzeichnungen des hennegauischen Kanzlers Giselbert bieten! Dass mancherlei bezügliche Aufzeichnungen vorhanden waren, wie sie das Bedürfniss der Kanzlei erforderte, ist nicht zu bezweifeln; aber sie haben das Geschick des Reichsarchivs getheilt. Geblieben ist dagegen zum grossen Theile die Reihe der aus der Reichskanzlei hervorgegangenen Urkunden; und finden wir hier in Gesetzen und Rechtssprüchen auch nur selten die für unsern Gegenstand wichtigen Rechtssätze und Regeln ausdrücklich ausgesprochen, so werden sie doch meistentheils ausreichen, um aus der wiederholten Anwendung in Einzelfällen auf dieselben zurückschliessen zu können. Ist hier ein fester, insbesondere von örtlichen Eigenthümlichkeiten

unabhängiger Ausgangspunkt gewonnen, so werden wir mit grösserer

Empfohlene Zitierweise:
Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_048.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)