Seite:Gellert Schriften 1 A 029.jpg

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In dem sechzehnten Jahrhunderte hat sich Burkard Waldis um die Fabel verdient zu machen gesucht, und vierhundert an der Zahl in Verse gebracht, welche zu Frankfurt am Mayn 1548 in 8tav im Drucke erschienen sind. Morhof gedenkt seiner, in der deutschen Poeterey der mittlern Zeit, mit keinem Worte; und es scheint daher, daß er ihn für sehr schlecht muß gehalten haben. Es ist freylich leider bekannt, daß die deutsche Poesie nach den glücklichen Zeiten der Kayser aus dem schwäbischen Hause ein sehr schlechtes Ansehen bekommen, da sie durch die Unruhen des Krieges aus den Händen der Großen in die Hände des Pöbels gerathen, und endlich ein Zeitvertreib der ungehirnten Meistersänger geworden. Allein so schlecht sie auch in dem sechzehnten Jahrhunderte ausgesehen hat, wenn man Sebastian Brands und Johann Fischarts Arbeiten ausnimmt, von deren Stärke in der Dichtkunst die Herren Verfasser der schweizerischen critischen Schriften in dem siebenten Stücke gehandelt haben: so glaube ich doch, daß man unserm Waldis zu viel thut, wenn man ihn etwan mit Hanns Sachsen in eine Reihe setzen wollte. Er weis die weitläuftige und oft müßige Art zu erzählen, die man ihm mit Rechte vorwerfen kann, doch oft durch muntere Einfälle und lebhafte Beschreibungen wieder gut zu machen. Und er ist mehr zu bedauren, daß er nicht zu einer bessern Zeit gelebet hat, als daß er den Schimpf seiner Zeit und seiner verstümmelten Sprache entgelten sollte. Vielleicht werden einige Exempel von seiner Arbeit seinen Charakter besser bestimmen, als ich. Die Fabel vom Pferde und Esel lautet also:

     Einsmals ein Pferdt gebunden stund
Und het einen schönen Zaum im Mundt

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen. M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch, Leipzig 1769, Seite XXVIII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gellert_Schriften_1_A_029.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)