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Durch den Eintritt in die unsichtbare Versammlung wirst du heute dem höheren Orden zugestellt. — Weisst du aber auch hinlänglich, was es heisst herrschen? Nicht über den geringern oder vornehmern Pöbel, sondern über die besten Menschen ohne äusserlichen Zwang, ihnen einerlei Geist und Seele einhauchen? Das ist eine bishero in der Staatsklugheit noch unaufgelöste Aufgabe. Dort werden die Menschen aus Furcht und Zwang zum handeln bestimmt, hier bei uns soll sich jeder selbst dazu bestimmen.

Weist du auch, was geheime Gesellschaften sind? O, mein Bruder! Gott und die Natur, welche die Dinge der Welt, die Grössten sogut wie die Kleinsten zur rechten Zeit und am gehörigen Ort geordnet haben, bedienen sich solcher als Mittel, um ungeheure, sonst nicht erreichbare Endzwecke zu erreichen.

Du stehst hier in der Mitte zwischen der vergangenen und künftigen Welt. Mache dich gefasst einen flüchtigen oder kühnen Blick hineinzuwagen. — Die Natur, welche stufenweise Entwickelung eines unendlichen Planes ist, wo das nämliche Urbild in allen möglichen Veränderungen, Graduationen und Formen zum Grunde liegt, und von uns Menschen nach Verschiedenheit seiner Gestalt verschiedene Namen enthält, macht in allen diesen Veränderungen keinen Sprung, sie fängt von dem kleinst-möglichen und unvollkommenen an, durchläuft ordentlich alle Mittelstufen, um zum grössten und vollkommensten dieser Art zu gelangen, welches Höchste vielleicht neuerdings die niederste Stufe einer neuen höhern Veränderung ist: sie macht Kinder, und aus ihnen Männer; und Wilde, um daraus gesittete Menschen zu machen. So wie der einzelne Mensch, ebenso hat auch das ganze Geschlecht seine Kindheit, Jugend, männliches und graues Alter. Mit jeder dieser Perioden des ganzen Geschlechtes lernen die Menschen neue, ihnen vorher unbekannte Bedürfnisse. Aus jedem befriedigten Bedürfnis entsteht wieder ein neues und die Geschichte des Menschengeschlechtes ist die Geschichte seiner Bedürfnisse, wie das eine aus dem andern entstanden, diese Entwickelung der Bedürfnisse ist die Geschichte der Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes; denn nach diesen richten sich Kultur, Verfeinerung der Sitten, Entwickelung der schlafenden Geisteskräfte. Damit ändert sich zugleich die Lebensart, der moralische und politische Zustand, die Begriffe von Glückseligkeit, das Betragen der Menschen gegen einander, ihre Verhältnisse unter sich, die ganze Lage der jedesmaligen gleichzeitigen Welt.

Empfohlene Zitierweise:
Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens. Berlin: Hugo Bermühler Verlag, 1906, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Illuminaten-Ordens_(Engel)_151.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)