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Seite:HansBrassTagebuch 1945-06-22 001.jpg

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Freitag, 22. Juni 1945.     

     Der gestrige Tag überaus anstrengend. Es gibt unvermeidliche Härten, weinende Frauen u. offenkundiges Elend. Frau Dr. Tiefensee mit Kindern ist krank, aber nicht so, daß sie transportunfähig wäre. Dazu kommt, daß sie nach Königsberg muß, wo die Polen sie bestimmt nicht hereinlassen werden. Solche Fälle gibt es noch viele. Habe die Nacht nicht geschlafen. Werde Frau Tiefensee auf eigene Verantwortung hier lassen. Gewisse Halunken verstehen es von selbst, sich durch Hintertüren zu drücken wie der Hilfspolizist Herold, dem ich die Armbinde abgenommen habe, weil er zu sehr mit den Russen gemeinsame Sache gegen die Einwohner macht. Leider hat er über die Russen erreicht, daß er hier bleiben kann u. mit ihm sein Verhältnis, eine verheiratete Frau mit ihren Kindern u. ihrer Mutter. Von Dr. Hoffmann nur wenig Unterstützung, er redet den Leuten zu Gefallen, um dann nachher von mir rücksichtslose Durchführung zu verlangen. Dazu der widerliche Kommandant in Wustrow, der rücksichtslos unseren Lastwagen beansprucht für seine Privatwünsche, während wir kein Vieh u. keine Kartoffeln heranbekommen. Letztere sind in Massen zu haben u. wir haben keine, weil die Transportmittel fehlen. Am Montag fuhr unser Lastauto auf Befehl des Wustrower Kommandanten nach Rostock u. brachte für ihn zwei Flaschen Schnaps mit, sonst nichts. –

Gestern war auch Joseph, alias Sascha, wieder da der sog. „Wachtmeister“ unserer früheren Kosacken, die jetzt in Zingst sind. Er hat aus der Notgemeinschaft eine neue Montur erhalten u. jetzt eine Lammfellmütze, in der er bei der Hundstagshitze herumläuft. Er schiebt jetzt eifrig mit seinem Freunde Herold.

Sonnabend, 23. Juni 1945     

     4 Uhr Nachmittags. Heute früh um 6 Uhr begannen wir mit dem Abtransport der Flüchtlinge. Unser Lastauto fuhr zweimal nach Wustrow, außerdem vier Pferdefuhrwerke. Wir haben gestern noch viel Arbeit damit gehabt. Jeder mußte einen Passierschein in deutsch u. russisch haben, dazu Marschverpflegung, die schwer aufzutreiben war. Die Leute selbst machten viel Schwierigkeiten, weil viele von ihnen nicht fort wollten. Viele waren krank u. alt usw. Aber schließlich war's geschafft. Heute früh beim Abtransport ergab sich aber, daß sich viele einfach drückten u. nicht erschienen. Dazu kam, daß gestern einige Leute, die sich schon vorher auf den Weg gemacht hatten nach dem Osten, zurückkamen u. erzählten, die Polen hätten sie bei Stargard nicht durchgelassen. Diese Leute waren indessen sehr unzuverlässig u. ich hielt es für Geschwätz. Es gibt ja so viele Gerüchte.

     Heute Vormittag kam der Apotheker Linde aus Ribnitz zu mir ins Amt u. berichtete mir genau dasselbe. Er sagte, daß alle Flüchtlinge wieder zurückkehren würden. Ich konnte es nicht glauben. Mittags sprach ich mit unserem russ. Kommandanten, der diese Sache ebenfalls für Unsinn erklärte. Aber jetzt eben sind tatsächlich die ersten Flüchtlinge zurückgekehrt. Die alten Leute, die Kranken u. Schwachen sitzen nun wieder in Wustrow, die jungen Leute sind bereits zu Fuß hierher zurückgekommen. Man hat ihnen in Ribnitz gesagt, es sei Krieg zwischen Rußland und Polen u. niemand könne nach dem Osten. – Ich werde zum russ. Kommandanten gehen u. ihm berichten.

Empfohlene Zitierweise:
Hans Brass: TBHB 1945-06-22. , 1945, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1945-06-22_001.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2024)