Dieses Tolle Wetter hielt auch noch den ganzen nächsten Tag an; aber Dr. L. bekam dann doch wohl ein schlechtes Gewissen. Er kam u. untersuchte mich sehr gründlich u. stellte wiederum eine Nierenbecken= + Blasenentzündung fest. Er versicherte mir mit rührender Eindringlichkeit, daß er mir nichts verschwiege, daß nichts anderes zu finden sei u. daß ich mir keine Sorgen machen sollte. Aber das alles hinderte nicht, daß ich bis gestern, also neun Tage hindurch, dauernd in einer Temperatur zwischen 38 – 40° gekocht habe. Mein Zustand ist dabei so geworden, daß man das Ende bald absehen konnte.
Dr. Meyer ist dann von sich aus gekommen u. hat sich um mich bekümmert, obwohl er nicht viel machen konnte; aber er hat gewissenhaft getan, was er tun konnte. Bis er dann gestern sah, wie ich zusehends abnahm, wodurch er zu dieser letzten Entscheidung u. Verantwortung gedrängt wurde, die ich bei ihm ja schon zuweilen erlebt habe. Er entschloß sich zu Spritzen, deren Wirkung einer Pferdekur gleichen u. der ich leicht hätte erliegen können, wenn mein Herz nicht so gesund wäre. Er hatte mich vorher daraufhin untersucht.
Nun ist das Fiber zum ersten Male gewichen. Ich sitze am Fenster meiner Schlafstube u. sehe draußen die Schneeglöckchen u. die ersten gelben Krokusse, denn seit drei Tage ist endlich der Schnee fort. Im Dorf ist Unruhe, denn die Russen sollen Prof. Reinmöller abgeholt haben. Heute früh soll eine große Aktion gewesen sein zum Zwecke der Milch=Erfassung. Die Russen haben verlangt, daß sofort alle Milch nach Wustrow in die Molkerei abgeliefert wird. Es ist das ja immer das alte Lied. Jetzt scheinen sie ernst zu machen, es heißt, der Bürgermeister sei bestraft worden, weil er bisher die Milch nicht abgeliefert hat.
Eben kam die Post, darunter ein Schreiben von Fritz durch das Rote Kreuz vom September 1945, in dem er uns mitteilt, daß er in Hinterzarten im Lazarett liegt u. in französ. Kriegsgefangenschaft sei. Eine Organisation, die so arbeitet, scheint mir doch jeden Sinn verloren zu haben.
Auch heute fieberfrei, habe aber dennoch den ganzen Tag gelegen, bin erst jetzt Nachmittags zum Kaffee etwas aufgestanden.
Gestern Nachmittag war Dr. Meyer da.
Uebrigens hatte ich in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag einen bemerkenswerten Traum. Ich gehörte einer Religionsgemeinschaft als Priester an, zu deren Kult Menschenopfer gehörten. Als Kultgebäude diente ein großes, völlig Kubisches Haus, dessen Innenräume nach oben immer kleiner u. niedriger wurden. Es war überall sehr sauber u. gepflegt, aber völlig schmucklos, rein sachlich.
Hans Brass: TBHB 1946-03-23. , 1946, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1946-03-24_001.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2024)