Mittags brachte mir der Geldbriefträger, ein grauhaariger Beamter, die erwartete Postanweisung über 500,– M. von Fritz. Der Beamte sah das 17-Juni-Bild auf der Staffelei stehen u. betrachtete es interessiert. So kamen wir ins Gespräch. Er sagte, daß all die kleinen Erleichterungen, die die Regierung jetzt gewähre, ihren Zweck, die Arbeiter zu fangen, nicht erreichten. Man nähme wohl gern, was man jetzt kriegen könnte, aber das Hauptanliegen der Arbeiter u. aller Menschen überhaupt sei heute nicht mehr eine Herabsetzung der Arbeitsnormen oder eine Verbilligung der Arbeiterrückfahrkarten oder sonst eine kleine Verbesserung, sondern Hauptanliegen sei Freie Wahlen. Er sagte, daß im Augenblick eben nichts zu machen sei, es würde aber die Stunde kommen, wo diese Forderung erneut u. noch kräftiger erhoben werden würde. –
Endlich bestätigt heute Wellenstein den Eingang meines Briefes nebst Anlage, d.h. der Anmeldung zur Juryfreien. Die Einlieferung muß zwischen dem 20. u. 22. Juli erfolgen, wenn bis dahin die Grenze nicht geöffnet wird, dann wird aus der Sache nichts. – Vorläufig sieht's noch nicht danach aus. Zwar sind jetzt die Russen von den Grenzen abgezogen, aber die Grenzen werden von Volkspolizei streng bewacht u. die S=Bahn fährt immer noch nicht hinüber. Es sind lediglich ganz geringfügige Erleichterungen eingeführt worden, indem an den drei Punkten Prinzenstraße, Invalidenstraße u. Brunnenstraße mit besonderem polizeilichem Passierschein die Grenze überschritten werden darf. Passierscheine werden nur für ganz dringende Fälle ausgegeben, keinesfalls könnte ich mit einem großen Bilde hinüber. –
Im Bundestag ist das Gesetz wegen des Nationalen Feiertages am 17. Juni, der künftig begangen werden soll, mit allen Stimmen, gegen die Kommunisten angenommen worden. Diese Einigkeit ist sehr erfreulich. Die Regierungsparteien hatten zunächst nur einen Gedenktag vorgeschlagen, die SPD. aber hatte einen Feiertag beantragt. Auf diesen Antrag hat man sich ohne weitere Debatte geeinigt. – In der gesamten Ostpresse fährt man aber fort, den 17. Juni als ein Werk der faschistischen Provokateure aus dem Westen hinzustellen. Das Gespräch mit dem Geldbriefträger gestern bewies mir, daß die Ostpresse damit keinen Erfolg hat, vielmehr bewirkt es das Gegenteil. Die Arbeiter ersehen daraus ganz klar, daß die kleinen Erleichterungen des sogen. neuen Kurses nur Zuckerbrot sind, um die Arbeiter zu übertölpeln. Sie fallen aber darauf nicht rein. Der nun bald einsetzende Wahlkampf zu den
Hans Brass: TBHB 1953-07-03. , 1953, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1953-07-04_001.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2024)