Seite:Internationale Bibliothek (Müller, New York, 1887-1891) Heft 03 Seite 16.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Krasser: Anti-Syllabus. In: Internationale Bibliothek Heft 3 (1887)

Wer die Wahrheit jener Mährchen nur zum zehnten Theil geglaubt,
Wurde des vernünft’gen Denkens für sein Leben lang beraubt;
Zu geschweigen jenes Schadens, dass dem Fortschritt abgespart,
So viel Zeit und Geistesarbeit, schlecht benützt, vergeudet ward.

160
Und mit solchem abgeleg’nen, tollen Unrath allerwärts

Wagt ihr heut’ noch zu verpesten uns’rer Kinder Geist und Herz?
Heute, wo ein mächtig Wissen in der Welt emporgeblüht,
Gleich befruchtend für die Seele, wie veredelnd das Gemüth?
Heute, wo der Schriftgelehrte, der die Neuzeit nicht versteht,

165
Durch die glanzgefüllten Stätten der Kultur als Fremdling geht?

Wo der ernste Mann der Arbeit, der dem Fortschritt ferne war,
In dem schweren Kampf um’s Dasein untergeht als Proletar?

Fort mit Kabbala und Traumbuch nächtiger Vergangenheit;
Baut vernünft’ge Menschenschulen dem Geschlecht der neuen Zeit!

170
Tief bedauern wir die Alten, die im Irrthum unterthan,

Nicht die wunderbare Klarheit heutiger Erkenntniss sah’n.
Die bei hohen Geistesgaben, seufzend unter Müh’ und Qual,
Selbst ihr Leben freudig wagten für der Wahrheit Ideal.
O wie würden sie sich freuen, säh’n sie uns’rer Tage Glück,

175
O wie blickten sie mit Wehmuth auf die alte Zeit zurück!

Könnten Sokrates und Christus aufersteh’n in uns’rer Welt,
Und sie säh’n das einst’ge Dunkel gar so zauberhaft erhellt,
Welcher Jubel, welch’ Entzücken, o wie tauchten sie sogleich
Mit der ganzen Kraft der Seele in das neue Geisterreich!

180
Und wir sollten ewig hangen am ererbten Mummenschanz,

Statt uns selig zu versenken in der Zeiten Licht und Glanz?
Und wir sollten rückwärts greifen, Kinder einer grossen Zeit,
Die so weit das Abgelebte überstrahlt an Herrlichkeit?
Fort mit allen Rumpelkammern voller Schutt und Moderduft!

185
Menschheit, bade deine Schwingen in der frischen Morgenluft!

Dulde nicht, dass eine Stunde unbenützt verübergeht,
Eh’ sie ihre goldnen Saaten auch in deine Brust gesä’t!
Dulde nicht, dass die Minute unverstanden weiter rückt,
Eh’ sie ihren Hohheitsstempel auf die Stirne dir gedrückt!

190
Dulde nicht, dass deiner Kinder unverdorb’ner Geisteskraft

Ferner vorenthalten bleibe die moderne Wissenschaft!
Tritt ein Pfäfflein dir entgegen, mit Kapuze und Tonsur,
Singend seinen Bibelsegen – sing’ du Psalmen der Natur,
Schlägt er mit dem Kruzifixe, mit Konzil und Krummstab d’rein.

195
Um dich wieder zu bekehren zu den alten Litanei’n, –

Dann mit Teleskop und Spektrum demontir den armen Wicht,
Oder schleud’re ihm der Neuzeit Blitz und Dampf ins Angesicht!

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Krasser: Anti-Syllabus. In: Internationale Bibliothek Heft 3 (1887). Müller, New York 1887, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Internationale_Bibliothek_(M%C3%BCller,_New_York,_1887-1891)_Heft_03_Seite_16.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)